Eltern klagen für Beitragsgerechtigkeit

Sozialkassen mit Schlagseite

"Kinder kriegen die Leute immer", befand einst Konrad Adenauer. Seit das nicht mehr zutrifft, sind Sozialversicherungen aus der Balance. Jetzt versuchen Kläger vor dem Bundessozialgericht, mehr Beitragsgerechtigkeit für Familien zu erstreiten.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Wird zum Mittelpunkt einer familienpolitischen Debatte: Das Bundessozialgericht in Kassel.

Wird zum Mittelpunkt einer familienpolitischen Debatte: Das Bundessozialgericht in Kassel.

© Uwe Zucchi /dpa

KASSEL. Am 30. September wird vor dem Bundessozialgericht (BSG) der Versuch gestartet, einen Systemfehler in der Sozialversicherung zu lindern. In einem Musterverfahren wollen Kläger mehr Beitragsgerechtigkeit für Familien in den Sozialkassen erreichen (Az.: B 12 KR 15/12 R).

Die klagende Familie scheiterte zuletzt vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg, doch die Richter haben wegen der grundsätzlichen Bedeutung Revision vor dem BSG zugelassen.

Am Montag haben die beiden Prozessbevollmächtigten in Berlin Einzelheiten des Verfahrens der Presse vorgestellt: Professor Thorsten Kingreen, der an der Universität Regensburg Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht lehrt, sowie Dr. Jürgen Borchert, der bis 2014 Richter am LSG Darmstadt gewesen ist.

Borchert gilt in dem Metier als kampferprobt, da er maßgeblich vor dem Bundesverfassungsgericht das "Trümmerfrauenurteil" (7. Juli 1992) sowie das "Beitragskinderurteil" (3. April 2001) erstritten hat.

Im Urteil von 1992 hielten die Richter fest, die Erziehung von Kindern habe wegen des Generationenvertrags "bestandssichernde Bedeutung" für die Rentenversicherung. Die Nachteile für Familien hätten "ihre Wurzel nicht allein im Rentenrecht" und müssten "folglich auch nicht nur dort behoben" werden.

Gebot intergenerationeller Gleichbehandlung

2001 schrieb das Verfassungsgericht erneut Sozialrechtsgeschichte. Im Beitragskinderurteil, das sich mit der gesetzlichen Pflegeversicherung befasste, erkannten die Richter es als verfassungswidrig an, dass "Mitglieder (...), die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbetrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden."

Damit monierten die Richter nicht, dass der Familienlastenausgleich in der Pflegeversicherung unzureichend ist. Vielmehr formulierten sie den Gleichheitssatz in Artikel 3 Grundgesetz als Gebot intergenerationeller Gleichbehandlung: Gerade in einer Sozialversicherung, die ein Risiko abdeckt, das überproportional im Alter auftritt und durch Beiträge der nachwachsenden Generation finanziert wird, begünstige "die Erziehungsleistung versicherter Eltern (...) in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder", so die Richter.

Denn im Fall der Pflegebedürftigkeit erwachse "Versicherten ohne Kinder (...) ein Vorteil aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter, die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten".

Der Gesetzgeber reagierte auf das Urteil mit einer Minimalanpassung und schuf in der Pflegeversicherung einen Aufschlag für Kinderlose von 0,25 Beitragspunkten für Versicherte über 23 Jahre. Diese "Entlastung" addiert sich für Eltern auf sieben Promille der gesamten von ihnen zu zahlenden Sozialversicherungsbeiträge.

Zwar erteilten die Richter dem Gesetzgeber auch 2001 den Auftrag, "die Bedeutung des Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen". Die damalige rot-grüne Regierung sah aber "keine Notwendigkeit" zur Nachbesserung im Rentenrecht und in der GKV.

Schließlich gebe es ja in der Krankenversicherung etwa spezifische familienpolitische Leistungen sowie die "beitragsfreie Mitversicherung" von Kindern, argumentierte die Regierung.

Semantisches Großreinemachen nötig

Um mit diesem seit langem etablierten Missverständnis aufzuräumen, werden die Kläger vor dem BSG ein semantisches Großreinemachen veranstalten müssen. Denn die angeblich "beitragsfreie Mitversicherung" ist eine Mär, ergab eine Studie von Dr. Frank Niehaus.

In dem Gutachten für die Bertelsmann-Stiftung wies Niehaus 2013- damals Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung - anhand von Daten aus dem Risikostrukturausgleich sowie der Rentenversicherung nach, dass Familien nicht Transferempfänger, sondern Nettozahler in der GKV sind.

Denn das Einkommen jedes Mitglieds wird unabhängig davon verbeitragt, ob er oder sie eine Familie zu ernähren hat oder nicht - die Unterhaltskosten werden nicht von der Beitragsbemessung freigestellt.

Niehaus zeigte, dass die allermeisten Familien mit bis zu drei Kindern in der Erwerbsphase der Eltern im Schnitt weniger Gesundheitsleistungen aus der GKV erhalten, als sie an Beiträgen zahlen.

Ob das BSG oder am Ende wieder das Bundesverfassungsgericht entscheidet: Ein Anstoß für mehr Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung ist eher von der Judikative zu erwarten.

Als eine Gruppe junger Abgeordneter in der Union sich 2012 für eine Sonderabgabe für Kinderlose aussprach, kassierte sie Prügel von allen Seiten. Der Vorschlag verschwand in der Schublade. Dort liegt er bis heute.

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