Niedersachsen

MHH hilft, wenn Sexualität entgleist

Sexueller Gewalt vorbeugen: Das ist das Ziel eines neuen Behandlungskonzepts. Die MHH will damit auch die Forschung intensivieren.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Das MHH-Konzept richtet sich an Menschen, die fürchten, ihre sexuellen Impulse nicht mehr kontrollieren zu können.

Das MHH-Konzept richtet sich an Menschen, die fürchten, ihre sexuellen Impulse nicht mehr kontrollieren zu können.

© Marcus Führer / dpa

HANNOVER. Mit dem Projekt Prävention und Behandlung dysregulierter Sexualität, kurz PBDS, will die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) Näheres über das Seelenleben der Täter sexualisierter Gewalt erforschen und so die Gewaltprävention voranbringen. Dabei sollen die Patienten lernen, ihre Sexualität zu regulieren und damit sexuelle Übergriffe auf Frauen zu verhindern.

Der MHH-Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Sexualmedizin hat am Mittwoch ein entsprechendes neues Behandlungskonzept vorgestellt. Es richtet sich an Menschen, die fürchten, ihre sexuellen Impulse nicht mehr kontrollieren zu können, so die MHH. Die Betroffenen konsumieren exzessiv Pornografie, leiden unter sexuellen Gewaltfantasien und begehen möglicherweise sexuelle Übergriffe.

"Schon seit fünf Jahren haben wir in der Pädophilie-Ambulanz in der MHH mit pädophilen Patienten Erfahrungen sammeln können", sagt Professor Uwe Hartmann, Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Sexualmedizin an der MHH, der "Ärzte Zeitung". Tatsächlich haben sich seit der Gründung 2012 fast 1300 Männer bei der Ambulanz gemeldet. "Im Laufe der Zeit haben wir aber gemerkt, dass vermehrt Männer zu uns kommen, die etwas ganz anderes suchen: Hilfe wegen ihrer gewalttätigen sexuellen Grenzverletzungen gegen erwachsene Frauen. Aber für diese Männer gab es bisher kein Therapie-Angebot."

Zwar gebe es die Diagnose "sadistische Paraphilie". Aber das Krankheitsbild der Betroffenen sei deutlich heterogener als bei pädophilen Tätern. Sehr verschiedene Aspekte können sexualisierte Gewalt auslösen. "So könnten die Betroffenen einmalig und unter besonderer Zuspitzung einer Situation gewalttätig werden", sagt Hartmann. Andere haben selbst sexualisierte Gewalt erfahren und wollen permanent Macht demonstrieren oder haben aus Unterlegenheitsgefühlen Hass auf Frauen entwickelt. Anders als bei pädophilen Tätern, die schlicht abstinent bleiben müssen, eröffne sich den Tätern sexualisierter Gewalt die Möglichkeit, "den gesunden Teil ihrer Sexualität zu stärken und auch zu leben", wie Hartmann sagt.

Der individuellen Psychotherapie im Rahmen des Projekts geht ein diagnostisches Interview und die Teilnahme an einer Psychoedukationsgruppe voraus, erklärt Hartmann. Die Hilfe ist kostenlos und auf Wunsch anonym. "Sexuelle Übergriffe passieren nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel", sagt Hartmann, "Es gibt einen Vorlauf in der Seele und der Sexualität des Täters. Die von uns angebotene Therapie kombiniert psychotherapeutische und sexualmedizinische Ansätze und bietet dabei auch die Möglichkeit einer zusätzlichen medikamentösen Unterstützung."

Um die Hintergründe der Gewaltfantasien besser zu verstehen, können die Patienten auch an einer Studie teilnehmen. "Bisherige Untersuchungen weisen zum Beispiel darauf hin, dass Alkohol- und Drogenkonsum oder auch psychiatrische Begleiterkrankungen als Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Übergriffs maßgeblich erhöhen können", erklärt Professor Tillmann Krüger, geschäftsführender Oberarzt in der MHH-Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, der das Projekt mit Hartmann leitet.

Die Initiative ist dringend nötig: Nach Angaben von Hartmann erlebt jede siebte bis 20. Frau in der Europäischen Union einmal in ihrem Leben eine Vergewaltigung.

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