Medizinethiker stellen sich gegen IQWiG

ESSEN/NEU-ISENBURG (iss/fst). Die Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel sollte nicht isoliert einzelne Erkrankungen im Blick haben, sondern indikationsübergreifend angelegt werden. Das fordert der Medizinethiker Professor Georg Marckmann von der Universität Tübingen.

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Im Streit um geeignete Evaluationsmethoden für Arzneimittel scheint das IQWiG isoliert.

Im Streit um geeignete Evaluationsmethoden für Arzneimittel scheint das IQWiG isoliert.

© Foto: imago

Mit dieser Position schließt der Medizinethiker sich der Auffassung von 29 Gesundheitsökonomen im Verein für Socialpolitik an. Die Forscher hatten sich im Februar für eine indikationsübergreifende Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln ausgesprochen (wir berichteten).

Angesichts der begrenzten Mittel hätten Entscheidungen in diesem Bereich Auswirkungen auf die Ressourcen, die für andere Behandlungen mit einem anderen Kosten-Nutzen-Verhältnis zur Verfügung stehen, erläuterte Marckmann beim "Gesundheitskongress des Westens" in Essen.

Absoluter Grenzwert ist nicht akzeptabel

Da es im Gesundheitswesen um die Verteilung knapper Ressourcen gehe, sei die Kosten-Nutzen-Bewertung als Instrument ethisch grundsätzlich nicht nur vertretbar, sondern auch geboten. "Kosten-Nutzen-Bewertung ist kein reines Rationierungsinstrument, sondern kann ein Instrument zur Effizienzsteigerung sein", sagte er. Für nicht vertretbar hält Marckmann dagegen die Festlegung eines absoluten Grenzwerts für die Erstattung einer Therapie. In diesem Fall kämen ethische Kriterien gar nicht zum Tragen, kritisierte er.

Das National Institute for Clinical Excellence (NICE), die vor fast zehn Jahren etablierte Bewertungsagentur in Großbritannien, verwendet als indikationsübergreifendes Bewertungsmaß das "Quality Adjusted Life Year" (QALY). Ein QALY ist ein Indexmaß, bei dem die lebensverlängernde Wirkung eines medizinischen Eingriffs in Beziehung gesetzt wird zur gewonnenen Lebensqualität der Patienten in dieser Zeitspanne. Der Schritt zur Bewertung eines QALY in einem bestimmten Geldbetrag ist allerdings nicht unumstritten.

Fairer Vergleich zwischen Alternativen ist gefragt.

In Großbritannien hat das NICE nie einen fixen Grenzwert festgelegt, ab dem der National Health Service (NHS) nicht mehr die Kosten für eine Therapie bezahlt. Ab Kosten von 20 000 bis 30 000 britischen Pfund pro Jahr für ein zusätzliches QALY wächst jedoch die Begründungslast eines Arzneimittelherstellers, der die Erstattung seines Präparats im NHS anstrebt.

Es handele sich, so Marckmann, um eine gleitende Preisgrenze mit Signalcharakter. "Wenn man darüber liegt, braucht man gute ethische Argumente", sagte der Medizinethiker. Ein Gesichtspunkt, der höhere Kosten für ein QALY rechtfertigen kann, ist beispielsweise die Frage, ob für Patienten mit einer bestimmten Erkrankung überhaupt eine alternative Therapie zur Verfügung steht.

Die Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland setze erst dann an, wenn es zu einer Arznei überhaupt eine zweckmäßige Alternative gebe, sagte IQWiG-Leiter Professor Peter Sawicki. "Es geht um den fairen Vergleich zwischen Alternativen." Dabei nehme das IQWiG die Perspektive der Versichertengemeinschaft ein. "Wenn wir weitere Perspektiven hinzuziehen, müssen wir das im Berichtsplan darlegen." Das indikationsspezifische Arbeiten sei dem Institut vom GBA vorgegeben, berichtete er. Unter Rechtsexperten ist allerdings strittig, ob sich aus den einschlägigen Vorgaben im Wettbewerbsstärkungsgesetz (Paragrafen 31 und 35 SGB V) eine Notwendigkeit zur indikationsspezifischen Kosten-Nutzen-Bewertung herauslesen lässt.

Das QALY hat in Sawickis Augen einen entscheidenden Nachteil. "Es ist immer der gleiche Wert, egal ob es um ein neues Medikament gegen Tollwut oder um das 50. Mittel gegen Hochdruck geht." Der IQWiG-Chef hält solche Schwellenwerte für innovationsfeindlich.

Höchstbeträge, die die Krankenkassen gegebenenfalls als Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Bewertung für ein nicht festbetragsgeregeltes Arzneimittel festlegen, könnten nichts anderes sein als ein virtuelles und psychologisches Hilfsmittel, sagte Dr. Robert van den Oever, Direktor Gesundheitspolitik beim belgischen Landesbund der christlichen Krankenkassen. "Es ist unmöglich, auf die Qualität eines Lebensjahres einen Preis zu kleben." Die Kosten-Nutzen-Bewertung sei notwendig, um bei der Mittelverteilung zwischen den individuellen Interessen und dem kollektiven Interesse abwägen zu können.

Kosten-Nutzen-Bewertung kann Innovationen erschweren

Auch die forschende Pharmaindustrie sehe grundsätzlich die Notwendigkeit einer Kosten-Nutzen-Bewertung, sagte Dr. Andreas Penk, Vorsitzender der Geschäftsführung von Pfizer Deutschland. Man müsse dabei aber die Konsequenzen im Blick haben. "Es besteht die Gefahr, dass Innovationen zu einem zu frühen Zeitpunkt abgelehnt werden."

Erst die verbreitete Anwendung eines neuen Mittels und die Etablierung der Therapie führten zu neuen Erkenntnissen. Die Implementierung einer Innovation finanziere die weitere Forschung. "In diese Prozesse greift die Kosten-Nutzen-Bewertung ein", warnte Penk.

Wichtig sei, dass die Bestimmung der Auswahl- und der Bewertungskriterien für die Evaluation transparent und nachvollziehbar ist, betonte Dr. Stefan Etgeton, Leiter des Fachbereichs Gesundheit und Ernährung beim Verbraucherzentrale Bundesverband. "Ziel kann nur sein, die notwendigen Verteilungsentscheidungen mit einem relativ hohen Grad an Rationalität auszustatten."

STICHWORT

Kosten-Nutzen-Bewertung

Die Kosten-Nutzen-Bewertung ist mit der Gesundheitsreform zum

1. April 2007 in Ergänzung zur Nutzenbewertung ins Sozialgesetzbuch V aufgenommen worden. "Die Bewertung erfolgt durch Vergleich mit anderen Arzneimitteln und Behandlungsformen unter Berücksichtigung des therapeutischen Zusatznutzens für die Patienten im Verhältnis zu den Kosten", heißt es im SGB V (Paragraf 35b). Der Gemeinsame Bundesausschuss beauftragt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit der Kosten-Nutzen-Bewertung. Hat das Institut eine Bewertung erstellt, geht sie als Empfehlung an den Ausschuss. Ende Januar hat das IQWIG einen Methodenvorschlag für die Kosten-Nutzen-Bewertung vorgelegt. Bis Ende März gingen dazu rund 50 Stellungnahmen ein. (iss)

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