Sprung-, Schritt oder Scheininnovation - was als medizinischer Fortschritt beim Patienten ankommt, wird nicht mehr nur in Labors entschieden

Was eine Innovation in der Gesundheitsversorgung ist, das erhitzt die Gemüter unter Experten. Eigentlich meint eine Innovation nichts weiter als eine Neuerung. Im Sozialrecht ist die Sache schon komplizierter: Dabei geht es um Qualität und Ausmaß einer Neuerung, um den Abgleich von Kosten und Nutzen.

Noch relativ neu ist in Deutschland eine solche Bewertung bei Innovationen im Arzneimittelmarkt. Ausdruck davon sind die Begriffe: Sprunginnovation, Schrittinnovation sowie Scheininnovation.

Innovationen im Fokus: Neues Präparat, neue Therapieoption für Ärzte, zusätzliche Kosten für Kassen.

Innovationen im Fokus: Neues Präparat, neue Therapieoption für Ärzte, zusätzliche Kosten für Kassen.

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Sprunginnovationen sind Arzneien, die für ein neues Therapieprinzip stehen, deren Wirkstoffe also bisher therapeutisch nicht genutzte Regelkreise beeinflussen oder etwa therapeutisch bisher nicht berücksichtigte Rezeptoren nutzen. Beispiele liegen auf der Hand: etwa der Betablocker Atenolol, der ACE-Hemmer Captopril oder der CSE-Hemmer Lovastatin - jeweils die ersten Vertreter eines neuen Therapieprinzips.

Mit ihnen wurde es möglich, erhöhte Blutdruck-Werte und erhöhte Cholesterinspiegel erfolgreich zu senken. Und - was bei der Einführung nicht absehbar war: Sie mindern Morbidität und Sterberate bei Herz-Kreislauferkrankungen. Das Potenzial dieser Sprunginnovationen hat sich erst nach breiter Anwendung gezeigt.

Weitere Vertreter einer neuen Klasse kommen nach

Der Wermutstropfen für manche Sprunginnovationen: Es kommen weitere Vertreter der Wirkstoffgruppe nach, die spezifischer, quasi ausgereifter, und damit besser verträglich oder sogar besser wirksam sind. Diese Präparate gelten als Schrittinnovationen. Unterschiede kann es etwa in der Selektivität für die Zielstruktur geben. Es kommt sogar vor, dass die ursprüngliche Sprunginnovation ihre Zulassung verliert und der therapeutische Fortschritt, den diese Sprunginnovation gebracht hatte, dann von den Schrittinnovationen getragen wird. Ein Beispiel ist der Insulinsensibilisator Troglitazon, der wegen Lebertoxizität vom Markt genommen wurde. Der Fortschritt wird nun durch die Schrittinnovationen Pioglitazon und Rosiglitazon getragen.

Kleine Veränderungen - große Wirkungen

Weiterentwicklungen von Arzneien entstehen oft durch kleine Veränderungen an der Molekülstruktur. Ein Beispiel ist die Entwicklung vom nur parenteral applizierbaren Penicillin G mit schmalem Wirkspektrum über Penicillin V, Ampicillin zum oralen Amoxicillin mit breitem Spektrum.

Welchen Zusatznutzen Patienten bei Schrittinnovationen durch die kleinen Unterschiede in der Molekülstruktur der Wirkstoffe haben, ist nicht immer gleich nach Zulassung und Einführung eines Präparates offenkundig. Die kleinen Unterschiede können zum Beispiel zur Folge haben, dass ein Teil der Patienten, bei denen ein Mittel laut Indikation angewandt werden kann, aufgrund besonderer Gene besonders gut auf die Therapie anspricht. Mit Genchips etwa wird versucht, solche Patienten zu definieren. Klar wird dadurch aber auch, wie problematisch es ist, Schrittinnovationen als Scheininnovationen abzuwerten.

Unabhängig davon, wie groß eine Innovation ist, müssen neue Therapien, damit sie zu Lasten der gesetzlichen Kassen verordnet werden können, wirtschaftlich sein. So sieht es Paragraf 12 im SGB V vor. Und diese Hürde ist in den vergangenen Jahren immer höher geworden. Nach der Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit dem GKV-Modernisierungsgesetz ist mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz die Kosten-Nutzen-Bewertung hinzugekommen. Auf deren Basis können die Kassen künftig einen Höchstbetrag festsetzen oder mit dem Hersteller vereinbaren. (Rö)

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Was ist eine Innovation? Drei Blickwinkel, drei Antworten

Wohl der Patienten

Aus der Sicht von Ärzten ist ein Arzneimittel eine Innovation, wenn die Therapie damit zu einer Verbesserung für die Patienten führt. Die Verbesserung kann auf verschiedenen Ebenen liegen. Es kann sein, dass Patienten mit einer Krankheit, bei der es bisher keine Therapie gab, jetzt erfolgreich behandelt werden können. Eine Innovation ist es aber auch, wenn durch die Therapie bei einer Krankheit erheblich weniger klinische Endpunkte auftreten als ohne Therapie, etwa weniger Komplikationen. Ärzte sehen es auch als Innovation an, wenn innerhalb einer Substanzklasse die Wirksamkeit etwas besser ist oder unerwünschte Wirkungen seltener sind. Das bessert ihre Möglichkeiten der Differenzialtherapie.

Lebensqualität zählt

Was den zusätzliche Nutzen für Patienten bei der Bewertung von Arzneimitteln ausmacht, regelt das Sozialgesetzbuch V nicht abschließend. "Insbesondere" sollen die Parameter "Verbesserung des Gesundheitszustandes, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verlängerung der Lebensdauer, Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität" berücksichtigt werden (Paragraf 35 b). Der Nutzen einer Innovation kann noch andere Dimensionen haben: etwa die einfache Anwendbarkeit eines Arzneimittels oder seine bessere Verträglichkeit im Vergleich zu älteren Präparaten. Generell ist die Möglichkeit, wieder am sozialen Leben teilzunehmen, für Patienten von hohem Nutzen.

Kassen und Kosten

Der Gesetzgeber hat vorgegeben, was bei der Bewertung von Arzneimitteln zu beachten ist: Ob die Kostenübernahme "angemessen und zumutbar" für die Versichertengemeinschaft ist, soll abgewogen werden mit dem zusätzlichen Patientennutzen. Problem aus Sicht der Kassen ist der Kostenschub, der durch den Einsatz einer Innovation ausgelöst wird, die oft zusätzlich zum alten Therapieregime eingesetzt wird. Ziel vieler neuerer Vertragsformen von Kassen ist es, dass Innovationen bei den "richtigen" Patienten eingesetzt wird. Dabei wird etwa versucht, ambulante und stationäre Versorgung mehr zu vernetzen. Eine "Behandlung aus einem Guss" soll helfen, Kostensteigerungen zu begrenzen.

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