Reformen werden nicht als Besserung erlebt

Noch ist die Gesundheitsversorgung gut - aber die Bürger fürchten für die Zukunft weitere Einschnitte. Allensbach-Chefin Professor Renate Köcher warnt davor, vor allem sozial schwächere Patienten weiter zu belasten.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

"Wenn die Politik nicht über Gesundheitsreformen spricht, dann reagiert die Bevölkerung entspannt." Das scheint im Moment der Fall, wo sich Parteien und Politiker vor der Bundestagswahl mit Vorschlägen für neue Gesundheitsreformen auffällig zurückhalten. Im Auftrag des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) hat das Institut für Demoskopie Allensbach Stimmungslage und Trend in der Bevölkerung erfragt.

Der aktuelle Status: für 71 Prozent ist die Gesundheitsversorgung in Deutschland gut oder sehr gut, für 26 Prozent weniger oder gar nicht gut. 59 Prozent meinen aber, die Qualität habe sich in den letzten zwei bis drei Jahren verschlechtert, nur vier Prozent sehen Verbesserungen.

Die letzte Reform, die zugleich die erste war, die nicht als Kostendämpfung, sondern als Leistungsverbesserung mit Mehrausgaben gedacht war, ist als solche nicht beim Bürger angekommen: 49 Prozent sehen mehr Nachteile, nur vier Prozent erblicken Vorteile.

Beim Bürger scheint sich der Eindruck zu verfestigen, dass es eine Zwei-Klassen-Medizin gibt: 41 Prozent haben den Eindruck, dass ihnen aus Kostengründen Medikamente vorenthalten worden sind; über 60jährige sind zu 47 Prozent weitaus stärker betroffen als Jüngere (30 Prozent). Kassenpatienten spüren Rationierung bei Arzneien mit 44 Prozent öfter als Privatpatienten (21 Prozent).

Rabattverträge der Kassen sind inzwischen einigermaßen vertraut, die Probleme spürbar: 58 Prozent wissen davon, 32 Prozent haben Erfahrungen mit der Substitution von Arzneimitteln gemacht, sieben Prozent klagen über Probleme, etwa mangelnde Verträglichkeit und Nebenwirkungen. Mit elf Prozent sind Ältere wiederum häufiger betroffen.

Der Einfluss der Kassen darauf, welches konkrete Arzneimittel der Patient kommt, wird überwiegend nicht goutiert: 76 Prozent meinen, allein der Arzt solle entscheiden, welches Medikament der Patient bekommt.

36 Prozent der Bürger sind davon betroffen, dass die Kassen rezeptfreie Arzneimittel nicht mehr bezahlen. Knapp zwei Drittel der Patienten kaufen das Mittel nun selbst; zehn Prozent haben es durch ein anderes ersetzt, aber vier Prozent verzichten nun.

Dabei haben rezeptfreie Arzneimittel einen beachtlichen Stellenwert: 46 Prozent nutzen sie häufig oder zumindest gelegentlich, bei den Älteren sind es sogar 55 Prozent. Während Jüngere zu über 70 Prozent auf die Konsultation des Arztes verzichten, ist Älteren der ärztliche Rat wichtig.

Die vom BAH initiierte Aktion zum Grünen Rezept ist daher von Bedeutung: insgesamt 56 Prozent der Bürger kennen dieses Rezept, 35 Prozent haben schon eines erhalten, 29 Prozent haben das ärztliche empfohlene Arzneimittel gekauft.

Finanzielle Eigenverantwortung in der Gesundheitsversorgung hat allerdings auch Grenzen. Nur noch 26 Prozent der Befragten sehen noch zusätzliche Spielräume, im Durchschnitt 51 Euro im Monat. Keinen Spielraum in ihrem Haushaltsbudget sehen 41 Prozent; das ist die größte Gruppe.

Allensbach-Chefin Köcher warnt vor einer Überforderung: Das disponible Einkommen der Haushalte im Westen liegt bei 320 Euro, im Osten bei 300 Euro. 27 Prozent der Bürger haben weniger als 100 Euro zur Verfügung. Bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung führe jede zusätzliche Belastung zum Konsumverzicht - auch bei der Gesundheit.

Interview

"Wir wollen eine bessere Versorgung für Kinder und Jugendliche"

Hans-Georg Hoffmann, Vorsitzender des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller.

Hans-Georg Hoffmann, Vorsitzender des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller.

© Foto: BAH

Ärzte Zeitung: Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller engagiert sich in einem Schwerpunkt für die Selbstmedikation. Welche Erwartung haben Sie an die nächste Bundesregierung, um die Eigenverantwortung von Patienten zu stärken?

Hoffmann: Sie muss ein Versprechen aus der Vergangenheit einlösen: dass sie klarstellt, dass die Differenzierung zwischen Erstattung und Nichterstattung durch die Krankenkassen keine Frage der Qualität, sondern nur der Kosten ist. Da hat uns die letzte Bundesregierung im Regen stehen lassen. Die Verbraucher haben sich mangels Information ein falsches Bild gemacht und so falsche Konsequenzen gezogen.

Ärzte Zeitung: Wie haben Sie das gespürt?

Hoffmann: Es hat erhebliche Rückgänge in der Selbstmedikation gegeben. Die Patienten haben Medikamente, die sie vor 2004 verordnet bekamen, nicht mehr selbst gekauft. Wir haben deshalb eine Aktion zum Grünen Rezept initiiert, mit dem Ärzte die Möglichkeit haben, die Selbstmedikation positiv zu beeinflussen. Der Patient hat die Gewissheit, dass auch der Arzt dieses Medikament für ihn für richtig und wirksam hält.

Ärzte Zeitung: Der Bundesausschuss legt in Arzneimittel-Richtlinien fest, wann der Arzt rezeptfreie Arzneien ausnahmeweise auf Kassenrezept verordnen kann. Mit der Praxis des Bundesausschusses sind Sie aber unzufrieden. Warum?

Hoffmann: Wir können für einzelne Arzneimittel den Antrag stellen, auf die Ausnahmeliste zu kommen. Das läuft in einem geordneten Verfahren. Was uns Sorge macht, ist die letzte Änderung der Richtlinien: Der Gesetzgeber wollte, dass Kinder und in gewissem Umfang auch Jugendliche von dem generellen Ausschluss ausgenommen sind. Wir fürchten, dass diese Ausnahmeregelungen nun ausgehöhlt werden. Das muss unbedingt korrigiert werden - auch weil Familien mit Kindern erheblich belastet werden.

Ärzte Zeitung: Sie kritisieren äußerst scharf die Rabattverträge. Was ist der Grund?

Hoffmann: Diese Verträge kommen ja nicht zwischen gleich starken Partnern zusammen. Die Macht liegt eindeutig bei den Kassen. Mit katastrophalen Folgen: vor allem für den, der keinen Zuschlag bekommt. Das wirkt wie eine Marktverbannung. Wer einen Zuschlag bekommt, kann sich angesichts der Konditionen auch nicht freuen. Dieses System muss abgeschafft werden. Wir werden konstruktive Alternativen vorschlagen, die bei der Preisbildung die Leistung von Arzneimitteln berücksichtigen.

Ärzte Zeitung: Ein Blick auf Europa: auch hier stehen wir vor einer neuen Wahlperiode von Parlament und Kommission. Was ist für Sie wichtig?

Hoffmann: Es gibt zwei besonders wichtige Themen: erstens die Bekämpfung von Fälschungen. Das ist aber auch sehr aufwändig. Wir meinen deshalb, dass sich die Sicherheitsinstrumente auf diejenigen Arzneimittel beschränken sollen, wo ein Fälschungsrisiko besteht. Das sind rezeptpflichtige Medikamente. Bei rezeptfreien Arzneien ist ein solches Risiko noch nicht festgestellt worden.

Der zweite Themenkomplex ist die Verwendung von Erkenntnismaterial durch Zulassungsbehörden. Das muss zu besseren Effekten führen. Einmal erstellte Studien und Monographien müssen wirklich gegenseitig anerkannt werden und Grundlage für Zulassungsanträge sein. Sonst haben wir sehr viel aufwendige Parallelarbeit. Solche Effekte könnten dann allerdings auch Anreiz für weitere Monographien sein.

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