Debatte beantragt

DDR-Arzneitests im Bundestag

Die Medikamententests in der früheren DDR werden zum Politikum. Der Bundestag will das Thema erörtern - eine zentrale und lückenlose Aufarbeitung wird gefordert.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
50.000 Patienten in der früheren DDR sollen nach Infomationen des "Spiegel" an Medikamententests teilgenommen haben.

50.000 Patienten in der früheren DDR sollen nach Infomationen des "Spiegel" an Medikamententests teilgenommen haben.

© [M] Zunge: Tania Zbrodko / shutterstock.com | Pillen: photos.com PLUS

BERLIN. Im Bundestag mehren sich Stimmen für eine umfassende Aufarbeitung der Medikamententests an Probanden in der früheren DDR. Die Grünen im Bundestag haben am Montag eine "Aktuelle Stunde" zu dem Thema in dieser Woche beantragt.

Der grüne Abgeordnete Volker Beck betonte, die "Opfer haben ein Recht auf lückenlose Aufarbeitung". Nach Informationen des "Spiegel" haben weit mehr Probanden - oft unwissentlich - an Testreihen für Medikamente teilgenommen, als bisher angenommen wurde.

Das Magazin spricht von "mindestens 50.000 Menschen" und mehr als 600 Studienreihen mit nicht zugelassenen Medikamenten von westdeutschen und schweizerischen Unternehmen.

50 DDR-Kliniken beteiligt?

Daran seien 50 Kliniken in der gesamten DDR beteiligt gewesen. In früheren Recherchen des MDR-Magazins "Exakt" war noch von 165 Studien die Rede gewesen.

Der "Spiegel" beruft sich dabei auf bislang unveröffentlichte Akten aus Privatarchiven von Ärzten, Beständen des DDR-Gesundheitsministeriums und der Stasi sowie dem Institut für Arzneimittelwesen der DDR.

Vereinbart worden seien die klinischen Tests von westlichen Arzneimittelherstellern mit einem "Beratungsbüro", das dem früheren DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski unterstanden haben soll. Angeblich sollen pro Studie bis zu 800.000 DM an die DDR geflossen sein, das "Kopfgeld" je Proband habe bis zu 3800 DM betragen.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner (CDU), hat angesichts der neuen Berichte eine Aufklärung westdeutscher Arzneimittel-Tests in der DDR gefordert. Die Fakten sollten "rückhaltlos untersucht und die Hintergründe aufgeklärt werden", so Bergner zur "Mitteldeutschen Zeitung".

Bereits in der vergangenen Woche hatten die Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen eine flächendeckende Untersuchung gefordert.

"Angesichts der für den DDR-Alltag bekannten erheblichen Differenz zwischen Gesetzestexten und deren Umsetzung im Alltag bestehen begründete Bedenken, ob die damals international üblichen ethischen und die juristischen Festlegungen eingehalten wurden", heißt es in der Erklärung der Landesbeauftragten. Sie empfehlen, die Forschung zu bündeln - auch um eine Koordinierung über die Bundesländer hinweg sicherzustellen.

"Keine Menschenversuche"

Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) erklärte, die Standards für klinische Studien hätten "nach unserem Erkenntnisstand dem damals Üblichen" entsprochen.

Das DDR-Recht machte Vorgaben für die Durchführung klinischer Prüfungen, "die denen westlicher Staaten und auch der USA vergleichbar waren, in einzelnen Punkten sogar darüber hinausgingen", so der vfa.

Der Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Charité, Professor Volker Hess, regte ein Forschungsprojekt an, das klären solle, "ob alles mit rechten Dingen zuging", sagte er der dpa.

Der Wissenschaftler sprach sich gegen eine vorschnelle Skandalisierung aus: "Ich würde nie von Menschenversuchen sprechen, das ist eine andere Kategorie."

Allerdings ist unklar, ob die Studienteilnehmer in jedem Fall explizit in die Teilnahme eingewilligt haben. Nach Angaben der MDR-Autoren habe eine Sonderklausel im damaligen DDR-Arzneimittelrecht besagt, dass in Phase-III-Studien auf die eigenhändige Unterschrift des Patienten verzichtet werden könne.

Das Unternehmen Sanofi teilte auf Anfrage mit, die frühere Hoechst AG habe von 1985 bis 1990 in der früheren DDR "eine kleine zweistellige Zahl klinischer Studien" vornehmen lassen. Dabei seien neun Wirkstoffe geprüft worden, die alle später als neue Medikamente zugelassen worden seien.

Die Studien seien in Westdeutschland von Ethikkommissionen bewilligt worden. Dabei, so Sanofi weiter, seien die Studienärzte verpflichtet worden, "Studienteilnehmer vorab über Zielsetzung der Studie und mögliche Risiken aufzuklären." Insoweit hätten die Studien "den damals gültigen Standards entsprochen".

Auch Kliniken sollen sich beteiligen

Der Vorsitzende des Vereins DDR-Opfer-Hilfe, Roland Lässig, sprach sich dagegen aus, dass mutmaßlich seinerzeit an den Tests beteiligte Kliniken nun an der Aufklärung mitwirken wollen. "Wir fordern eine unabhängige Kommission, die vom Bundesgesundheitsministerium unverzüglich eingesetzt wird", teilte Lässig mit.

Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, sagte der dpa, die Pharma-Tests verdeutlichten, dass es sich bei der "Aufarbeitung der SED-Diktatur um ein gesamtdeutsches Anliegen" handele.Der vfa regte eine zentrale Federführung bei der wissenschaftlichen Erforschung an.

"Aus unserer Sicht könnte dies durch das Bundesministerium des Inneren ("Angelegenheiten der Neuen Bundesländer") geschehen", so der Verband. Der vfa wolle dabei nicht die Koordinierung übernehmen. Danach aber stünde der Verband für Gespräche bereit, "wie wir uns sinnvoll beteiligen können".

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