Arzneimittel

Realität überholt Experten

Union und SPD setzen weiter auf Zwangsabgaben von Pharmaherstellern. Bei einem Expertenforum vor einigen Tagen war ein solcher Schritt angesichts des Finanzpolsters der Kassen so nicht erwartet worden.

Von Marco Hübner Veröffentlicht:
Kapsel blau-weiß: Was wird die kommende Regierung für Arzneien bringen?

Kapsel blau-weiß: Was wird die kommende Regierung für Arzneien bringen?

© blickwinkel / imago

TÜBINGEN. Vertreter aus Politik, Ärzteschaft, Apothekerzunft, Wissenschaft und Krankenkassen wurden am Montag eines Besseren belehrt: Noch vor einigen Tagen gingen sie beim 1. Tübinger Dialog davon aus, dass Änderungen der politischen Steuerungsinstrumente für den Arzneimittelmarkt nicht zu oberst auf der gesundheitspolitischen Agenda stehen. Als ein Grund dafür wurde das satte Polster bei den Kassen genannt.

Nun haben sich Union und SPD aber bei den Koalitionsverhandlungen am Montagabend darauf geeinigt, den Zwangsrabatt dauerhaft mit sieben Prozent weiterzuführen. Zusätzlich soll das Preismoratorium für Rezeptarzneien außerhalb der Festbeträge fortgeschrieben werden.

Dies liegt sehr nah an der Annahme von GKV-Spitzenverband und KBV, die bei Abschluss ihrer Zielvereinbarung mit einem Rabatt von sechs Prozent gerechnet hatten. Damit sind im nächsten Jahr deutlich stärker steigende Arzneiausgaben zu erwarten.

Dennoch rechnet der Essener Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem damit, dass die Rücklagen im Gesundheitsfonds auch bis Ende 2015 immer noch - "wenn auch nur knapp" - oberhalb der gesetzlichen Mindestquote liegen.

Zum Ablauf eines Geschäftsjahres muss der Fonds mindestens 20 Prozent der durchschnittlich auf den Monat entfallenden Ausgaben des Fonds vorhalten.

AMNOG: Kleine Korrekturen nötig

Beim AMNOG, und damit bei der frühen Nutzenbewertung, wurden nur kleinere Korrekturen erwartet. "Die AMNOG-Struktur ist richtig und wichtig. Vielleicht haben wir durch dieses Instrument das Ungeheuer in Loch Ness, die Arzneimittelkosten, endgültig unter Wasser getunkt", sagte Andreas Vogt, Leiter der TK-Landesvertretung Baden-Württemberg.

Änderungsbedarf sah Wasem bei der Machtposition des GKV-Spitzenverbands. Angefangen bei der Wahl der zweckmäßigen Vergleichstherapie über die Nutzenbewertung bis hin zu den Preisverhandlungen: Der GKV-Spitzenverband sitzt an allen Reglern im System.

"Als Kassenvertreter hat man im Auge, dass alles auf die Preisverhandlung zuläuft." Das sei eine "problematische Interessenverquickung", so Wasem.

Auch Ulrich Conzelmann, Leitender Ministerialrat im Sozialministerium Baden-Württemberg, erwartete, dass die Politik beim AMNOG nachjustieren muss. Von Vorgaben im Koalitionsvertrag ging er aber nicht aus.

"Dazu ist das Thema politisch nicht gewichtig genug." Dass die große Koalition die Prüfung des Bestandsmarkts fast komplett aufgeben will, davon war in Tübingen noch keiner der Experten explizit ausgegangen.

Gehandelt wird bereits jetzt auf der regionalen Ebene, machte KV-Geschäftsführerin Susanne Lilie deutlich. Seit Jahren bemühen sich die Prüfgremien, die Zahl der zu prüfenden Ärzte möglichst gering zu halten.

Damit die Verordnungspraxis mehr Spielraum für die Teilhabe am medizinischen Fortschritt zulässt, arbeiten KV und Kassen an einer gemeinsamen Arzneimittel-Informationsplattform.

Apotheker im Ländle wollen mit an den Tisch

Sie soll Ärzte bei der indikationsbezogenen Wahl des Medikaments unterstützen. Zurzeit müssen sich Ärzte an unterschiedlichen Stellen Orientierung verschaffen. Es gibt die AWMF mit den S3-Leitlinien, den Arzneimittel-Informationsdienst der KBV und den GBA, der über Ergebnisse der Nutzenbewertung informiert.

"Wir sind nicht die, die so einen Dienst neu erfinden, wir führen die Informationen zusammen", erläuterte Lilie. Die Behandlung bei einzelnen Krankheitsbildern wird dafür in Stufenschemata ausgearbeitet. Ziel ist: Wenn die dort formulierte Therapie von den Ärzten eingehalten wird, ist sie per se wirtschaftlich.

Für ein Gelingen spricht laut Dr. Jürgen Bleil, Leiter des Fachbereichs Arzneimittelversorgung der AOK Baden-Württemberg, besonders die gute Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Kassen im Projekt.

"Wenn Kassen mit Ärzten am Tisch sitzen, und der Konsens auf örtlicher Ebene geschaffen wird, können die Beteiligten auch erfahrungsgemäß gut mit dem Ergebnis arbeiten." Das Vorhaben ist aus Bleils Sicht zudem bereits gelebte Praxis in den Selektivverträgen: "Seit gut fünf Jahren sammeln wir schon Erfahrungen."

Auch die Apotheker im Ländle wollen mit am Tisch sitzen. Sie sind bisher nicht in die Entstehung des Info-Portals eingebunden. "Wir würden uns freuen, wenn sowohl Landesapothekerkammer als auch Landesapothekerverband mit eingebunden würden", sagte Ina Hofferberth, Geschäftsführerin des Landesapothekerverbands (LAV) Baden-Württemberg.

Apotheker könnten etwa bei der Sicherung der Compliance großen Nutzen stiften und sich so einbringen, so Ina Hofferberth vom Landesapothekerverband Baden-Württemberg.An den Start gehen soll die Plattform in der ersten Hälfte des nächsten Jahres, hieß es.

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Kosten und Nutzen

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