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Rezeptfreie Arznei mit viel Potenzial

Zehn Jahre nach Ausschluss rezeptfreier Arzneien aus der GKV will der Bundesverband der ArzneimittelHersteller (BAH), dass diese Medikamente für Jugendliche und alte Menschen wieder erstattungsfähig werden. Der BAH-Vorsitzende Jörg Wieczorek erklärt im Interview, warum.

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Jörg Wieczorek

Rezeptfreie Arznei mit viel Potenzial

© Svea Pietschmann

Derzeitige Position: Vorsitzender des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller, Geschäftsführer der Hermes Arzneimittel GmbH.

Beruf: Geschäftsführer.

Karriere: 1985 Eintritt bei Beiersdorf, 1989 bis 1994 bei der Bayer AG, von 1995 bis 1999 Boehringer Ingelheim, 1999 bis 2007 Novartis Consumer Health, seit 2008 Geschäftsführer der Hermes Arzneimittel GmbH.

Ärzte Zeitung: Herr Wieczorek, mit dem Versorgungsstärkungs-Gesetz plant der Gesetzgeber Erleichterungen für die Versorgung mit rezeptfreien Arzneimitteln, allerdings nur in besonderen Versorgungsformen. Ist das ein Schritt in die Richtung oder doch eher enttäuschend?

Wieczorek: Ein Schritt in die richtige Richtung sicherlich. Es ist doch eine Weiterentwicklung der bereits 2012 eingeleiteten Maßnahmen. So ist es nur folgerichtig, dass rezeptfreie Arzneimittel in die hausarztzentrierte Versorgung aufgenommen werden können.

Inwieweit sind den die 2012 geschaffenen gesetzlichen Möglichkeiten genutzt worden?

Aus unserer Sicht noch nicht ausreichend. Darum besteht Verbesserungsbedarf. Derzeit nutzen erst etwa 60 Krankenkassen die Möglichkeit, rezeptfreie Arzneimittel als Satzungsleistung aufzunehmen. Da ist sicherlich noch Potenzial.

Mit dem Versorgungsstärkungs-Gesetz erweitert sich der Gestaltungsspielraum für die Krankenkassen, aber auch für die Ärzte als Vertragspartner.

Warum ist die Erstattung rezeptfreier Arzneimittel bei Jugendlichen so wichtig?

Rezeptfreie Arzneimittel spielen eine besondere Rolle bei schutzbedürftigen Personen wie Kindern und Jugendliche. Hier haben wir eine Altersgrenze von zwölf Jahren, ab der rezeptpflichtige Arzneimittel keine Kassenleistung mehr sind. Hier sind wir in der Diskussion mit vielen Politikern und Stakeholdern, dass wir die Leistungspflicht ausweiten auf Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr.

Denn viele Therapien, wie beispielsweise bei Neurodermitis, sind ja mit zwölf Jahren nicht beendet, sondern müssen fortgeführt werden. Das geht im Moment nur, wenn der Arzt eine Entwicklungsstörung bestätigt, was für die betroffenen Jugendlichen eine stigmatisierende Wirkung hat. Da sehen wir Handlungsbedarf.

Auch bei älteren Menschen sollen Kassen rezeptfreie Arzneimittel künftig erstatten können. Welche Vorteile sehen Sie darin?

Dafür gibt es gute Gründe: Erstens die Arzneimittelsicherheit. Denn die Verordnungsfähigkeit von OTC-Arzneimitteln zu Lasten der Krankenkassen sichert die Verordnung aller Arzneimittel aus einer Hand. Der Arzt hat eine bessere Übersicht über die Gesamtmedikation.

Im Durchschnitt nehmen ältere Menschen über 65 Jahre 3,6 Tagesdosen - diejenigen, die krank sind, erheblich mehr. Da ist es sinnvoll, auch OTC-Arzneimittel, die ja auch Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben können, in das Medikations-Management einzubeziehen. Diese Transparenz schafft deutlich mehr Sicherheit.

Zweitens haben rezeptfreie Arzneimittel ein deutlich günstigeres Nebenwirkungsprofil als rezeptpflichtige, und das ist gerade bei älteren, multimorbiden Menschen von großer Bedeutung. Drittens sind OTC-Arzneimittel deutlich preisgünstiger. Man kann also mit dem Arzneimittel sparen, und das führt für den Arzt zu einer Budgetentlastung. Und schließlich hat der Arzt mehr Therapieoptionen.

Traditionell hat Ihr Verband einen Schwerpunkt in der Interessenvertretung der Hersteller von OTC-Arzneimitteln, also Medikamenten, die eigenverantwortlich gekauft werden. Wie sehen Sie die Verantwortung der Ärzte bei der Empfehlung solcher Arzneimittel?

Richtig, historisch hatten wir einen Schwerpunkt in der Selbstmedikation. Heute verstehen wir uns aber interessenpolitisch als Vollversorger. Ein Wendepunkt markiert das Jahr 2004, als der Gesetzgeber rezeptfreie Arzneimittel aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen hat.

In jenem Jahr haben wir gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Apothekerverbänden das Grüne Rezept entwickelt.

Im vergangenen Jahr sind 42 Millionen Verordnungen auf Grüne Rezepte erfolgt. 59 Prozent aller Patienten kennen das Grüne Rezept, und, was besonders wichtig ist: 91 Prozent aller Patienten, die von ihrem Arzt ein Grünes Rezept erhalten, lösen dieses auch in Apotheke ein.

Das heißt, Sie sehen nach wie vor eine aktive Rolle des Arztes...

Ja, das ist ganz wesentlich für die Compliance von Patienten. Die Empfehlung des Arztes hat da nachweislich ein großes Gewicht, wie wir aus unseren Erhebungen des Deutschen Gesundheitsmonitors des BAH wissen.

In welchen Indikationsgebieten sehen Sie in näherer Zukunft Kandidaten für einen OTC-Switch, also Arzneimittelwirkstoffe, die aus der Rezeptpflicht entlassen werden können?

Vor allem in den Indikationen Harnwegsentzündungen und Augenleiden erkennen wir Kandidaten. Europaweit zeichnet sich dabei ein Trend ab, wegzukommen von der reinen Wirkstofforientierung hin zu einem Indikationsbezug.

Bei der Migräne hat sich das gut bewährt für den Akutfall. Und das gleiche könnte für wiederkehrende Harnwegsinfekte gelten, mit denen der Patient gelernt hat, selbst umzugehen. Warum sollte er da jedes Mal zum Arzt gehen müssen? Hier sehen wir ein großes Potenzial, mit der Selbstmedikation auch das System entlasten.

Im Frühherbst ist der Dialog der Pharmaindustrie mit dem Bundesforschungs-, -wirtschafts- und -gesundheitsministerium sowie mit Forschungsinstitutionen gestartet. Mit welchen Erwartungen sind Sie in diesen Dialog gegangen?

Das war ein richtiger Schritt. Für uns geht es darum, wie wir den Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland im internationalen Wettbewerb sichern können. Hier muss die Frage diskutiert werden: Welchen Einfluss hat es auf Investitionen, wenn Forschung im Ausland steuerlich gefördert wird, bei uns aber nicht?

Und inzwischen sind die Regelungsinstrumente des SGB V - ich nenne als Beispiel das bis Ende 2017 dauernde Preismoratorium - so massiv gerade für den Mittelstand, dass wir mit der Politik reden müssen. Da müssen wir als Industrie gemeinsam mit Gesundheits-, Forschungs- und Wirtschaftspolitikern überlegen: Ist das Pendel in der Gesundheitspolitik zu einseitig zu Lasten der Industrie ausgeschlagen?

Ganz klar ist: Kleine und mittlere Unternehmen können das nicht mehr schultern.

Das Interview führte Helmut Laschet

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