Cannabis

Als Rezepturarznei zum Inhalieren oder Trinken

Ab 2017 könnte es Cannabis-haltige Arzneimittel auf Kassenkosten geben. Das wird für Patienten einiges einfacher machen - ein Cannabis-Boom ist unwahrscheinlich.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Ab nächstem Jahr könnten Cannabis-haltige Medikamente zur Therapie Schwerkranker eingesetzt werden.

Ab nächstem Jahr könnten Cannabis-haltige Medikamente zur Therapie Schwerkranker eingesetzt werden.

© Riccardo_Mojana / iStock

BERLIN. Das derzeit als Kabinettsentwurf vorliegende "Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften" zielt darauf ab, Cannabis-Präparate bei "schwerwiegenden" Erkrankungen regulär verschreibungsfähig zu machen, sofern keine Alternative verfügbar ist.

Damit soll eine Regelung abgelöst werden, bei der das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) patientenindividuell eine Ausnahmeerlaubnis für den Erwerb von Cannabis nach Paragraf 3 Absatz 2 Betäubungsmittelgesetz erteilen muss.

Praktisch umgesetzt werden soll das Ganze über Rezepturarzneimittel, für die die Apotheker jetzt vier Rezepturvorschriften erarbeiten. Diese müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass Cannabis-Wirkstoffe erst durch Hitzeeinwirkung aktiviert werden.

Joints und Kekse seien als Applikationswege ungeeignet, weil deren Dosis zu stark schwanke, sagte der Präsident der Bundesapothekerkammer (BAK), Dr. Andreas Kiefer bei einem BAK-Symposium am Dienstag in Berlin.

In der Diskussion sind deswegen abgeteilte Cannabisblüten und -extrakte zur Inhalation mit einem Verdampfer, außerdem abgeteilte Cannabisblüten und -extrakte zur peroralen Gabe, wobei bei den Blüten an ein Dekokt, eine Art Teezubereitung, gedacht wird.

Kiefer lobte die Intention des Gesetzgebers, den Eigenanbau durch Patienten zu unterbinden: "Beim Morphium drücken wir den Patienten auch keinen Schlafmohn in die Hand und lassen sie ihre Schmerztherapie alleine machen."

"779 Patienten sind keine Ausnahmen mehr"

Auch der Leiter der Bundesopiumstelle beim BfArM, Dr. Peter Cremer-Schaeffer, begrüßte das Vorhaben: "Aktuell haben 779 Patienten Ausnahmegenehmigungen. Das sind keine Ausnahmen mehr."

Das derzeitige Bewertungsprozedere, bei dem das BfArM auf Basis von Akten entscheidet, ob die Genehmigung erteilt wird, sieht Cremer-Schaeffer sehr kritisch: "Wir können das gar nicht umfassend beurteilen, weil es kein tragfähiges Arzt-Patienten-Verhältnis gibt."

Die interessante Frage der nächsten Jahre wird sein, wie sich der einfachere Zugang zu Cannabis-Rezepturen inklusive Kostenerstattung durch die GKV auf den Konsum von medizinischem Cannabis auswirken wird.

Szenarien, wonach bis zu 800.000 Patienten als Zielgruppe in Frage kommen, hielten die bei einem Symposium der Apothekerkammer zusammengekommenen Experten für übertrieben.

"Das ist sicher kein Arzneimittel, auf das wir gewartet haben. Es gibt gerade bei Schmerzpatienten viele Optionen. Cannabis kann da ein Baustein sein, aber im Gesamtkonzept einer Therapie", betonte Cremer-Schaeffer.

50-prozentige Schmerzlinderung erreiche niemand

Auch der Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft, Professor Michael Schäfer, äußerte sich eher zurückhaltend. Die meiste Evidenz in der Schmerztherapie gebe es derzeit beim neuropathischen Schmerz mit 15 randomisierten, placebokontrollierten Studien und insgesamt 1619 Patienten.

Die Number-needed-to-treat für eine mindestens 30-prozentige Schmerzreduktion liege hier bei 14, deutlich höher als bei anderen Schmerzmitteln.

Eine 50-prozentige Schmerzlinderung erreiche niemand. Und unerwünschte Wirkungen wie Müdigkeit, Schwindel und Gangunsicherheit seien häufige Gründe für einen Therapieabbruch.

Nur eine geringe Rolle spielt Cannabis Schäfer zufolge bisher bei der in politischen Diskussionen oft als Anwendungsgebiet genannten Palliativtherapie.

Neben der analgetischen Wirkung könnte hier theoretisch auch eine antikachektische Wirkung zum Tragen kommen. Überzeugende Studien dazu fehlten allerdings.

Bei Spastizität und damit zusammenhängenden Schmerzen, dem zweiten großen Anwendungsgebiet von Cannabis, gibt es Schäfer zufolge 14 randomisierte Studien mit 2280 Patienten.

Einige davon zeigten klare Effekte, vor allem bei Multiple Sklerose, in der Summe werde die Signifikanz aber verfehlt. "Cannabis dürfte eher in Einzelfällen zum Einsatz kommen, wenn Patienten anderweitig austherapiert sind", so der Schmerzmediziner.

Begleitforschung über 60 Monate

Die Frage ist, ob die Zahl der Patienten am Ende ausreicht, um jene Entwicklung anzustoßen, die von der Bundesopiumstelle als wünschenswert angesehen wird. Die Rezepturregelung sei aus seiner Sicht eine Übergangslösung, so Cremer-Schaeffer.

Langfristiges Ziel sollten geprüfte und zugelassene Fertigarzneimitteln sein. Auf dem Weg dorthin wird das BfArM gemäß Gesetzentwurf eine Begleitforschung organisieren, bei der über 60 Monate Indikationen, Dosierung, Sicherheit und Wirksamkeit der Cannabis-Rezepturen evaluiert werden sollen.

Auch von den Ergebnissen dieser Evaluation wird es abhängen, ob Cannabis wirklich zu einem ganz normalen Arzneimittel wird.

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