Arzneimittel-Atlas zeigt

Es wird nicht konsequent geimpft

Die Impfquoten liegen in Deutschland weit unter dem medizinisch empfohlenen Bedarf. Und das Problem beschränkt sich nicht nur auf die aktuell im Fokus stehende Masern-Impfung.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

NEU-ISENBURG. Aktuell ist es der besorgniserregende und anhaltende Ausbruch von Masern in Berlin, der die Öffentlichkeit auf Impflücken in der Bevölkerung aufmerksam macht.

Doch die ungenutzten Potenziale der Impfung als wirksames Instrument der Primärprävention beschränkt sich nicht auf Masern - in nahezu allen Indikationen liegen die tatsächlichen Impfquoten weit unter dem medizinisch empfohlenen Bedarf.

Mit einem deutlichen regionalen Unterschied: Seit jeher wird in den neuen Bundesländern konsequenter geimpft als im Westen.

Einbruch nach 2008

Wie wichtig es wäre, beim wiederholten Anlauf der Bundesregierung für ein Präventionsgesetz auch eine konsequente Impfstrategie in Deutschland zu implementieren, zeigt die Entwicklung der Zahl geimpfter Menschen.

Sie stieg in den Jahren zwischen 2004 und 2007 um gut ein Drittel auf 47,6 Millionen deutlich, wie aus dem Arzneimittel-Atlas 2014, der auf Daten der Marktforschung von Insight Health basiert, hervorgeht.

Als Ursachen dafür werden vermehrter Verbrauch von FSME-, Meningitis und Pneumokokken-Impfstoffen genannt, aber auch die 2006 eingeführte HPV-Impfung für Mädchen.

Nach 2007 brach der Aufwärtstrend nachhaltig ein: um rund ein Drittel auf 32,5 Millionen geimpfte Menschen im Jahr 2013.

Für den sinkenden Verbrauch war 2009 vor allem der Rückgang bei den Impfungen gegen FSME und HPV ausschlaggebend, 2010 der Rückgang der Impfungen gegen Influenza sowie FSME, 2011 und 2012 wurden wesentlich weniger Influenza-Impfungen in Anspruch genommen.

Ein Hinweis auf nicht gedeckten Bedarf ergibt sich aus den regional sehr unterschiedlichen Impfquoten. Traditionell liegen dabei die neuen Bundesländer deutlich über den westlichen.

An der Spitze liegen Brandenburg mit 0,66 und Sachsen mit 0,66 Impfdosen je GKV-.Versichertem, am unteren Ende Schleswig-Holstein mit 0,34 und Rheinland-Pfalz mit 0,37 Impfdosen.

Die Autoren des Arzneimittel-Atlas haben den Versuch unternommen, den nicht gedeckten Bedarf, also das noch nicht erschlossene Potenzial der Primärprävention durch Impfen abzuschätzen.

Als Basis werden dazu die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) herangezogen.

Defizite bei der Grippe-Impfung

Überprüfen lässt sich dabei aber lediglich, ob der Impfbedarf rein quantitativ gedeckt werden kann, unter der Voraussetzung, dass exakt nach den Empfehlungen der STIKO geimpft wird.

Dies wird in der Realität nicht immer der Fall sein, weil Impfungen auch für Personen erfolgen, bei denen sie nicht unbedingt indiziziert sind, etwa Influenza-Impfungen bei gesunden Personen unter 60 Jahre.

Es kann also sein, dass das Ausmaß an Bedarfsdeckung aufgrund dieser Berechnung durchaus noch unterschätzt wird.

Für die saisonale Influenzaimpfung, die in der GKV-Population bei Personen ab 60 Jahren in jeder Saison und für Schwangere seit 2010 als Standardimpfung empfohlen wird, ergab sich ein Bedarf von rund 20,3 Millionen Impfdosen.

Tatsächlich wurden im Jahr 2013 nur 13,4 Millionen Dosen verimpft. Es ist allerdings nicht bekannt, ob auch außerhalb des Personenkreises, für den die Impfung indiziert ist, geimpft wird, sodass tatsächlich ein noch höherer ungedeckter Bedarf bestehen könnte.

Public Health-Forscher nehmen an, dass in der Zielgruppe der älteren Bevölkerung nur jeder zweite eine Influenza-Impfung nutzt.

Kleinkinder gut geschützt

Bei FSME-Impfungen ist der Bedarf schwierig abschätzbar. Bekannt ist allerdings aus den Schuleingangsuntersuchungen, dass die Durchimpfungsraten in Baden-Württemberg und Bayern bei durchschnittlich 26,5 und 47 Prozent liegen.

In den Risikoländern Hessen und Thüringen betragen sie etwa 49 Prozent. In allen vier Bundesländern ist die Impfquote leicht rückläufig.

Bei der Pneumokokken-Impfung von Kindern liegt der Verbrauch von 574.000 ziemlich genau beim Bedarf. Bei den älteren GKV-Versicherten ist der Bedarf allerdings nicht gedeckt.

Differenziert ist ebenfalls die Situation bei der Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln zu beurteilen. Zumindest rein rechnerisch entspricht der Verbrauch an Impfstoffen für Säuglinge und Kleinkinder ziemlich genau dem Bedarf.

Ein ungedeckter Bedarf besteht jedoch bei den Nachimpfungen sowie dem nicht vorhandenen Impfschutz bei Erwachsenen.

Die 2006 eingeführte HPV-Impfung, die zunächst für Mädchen im Alter von 12 bis 17 Jahren empfohlen wurde, erlebte in den Jahren 2007 und 2008 (mit knapp 1,5 Millionen Impfdosen) eine Konjunktur, auch aufgrund des Nachholbedarfs.

Als Folge einer kontroversen Debatte brach der Verbrauch dann allerdings abrupt auf 390.000 Dosen ein. 2013 wurden 652.000 Dosen verimpft, der Bedarf lag bei 938.000.

Inzwischen hat die STIKO ihre Empfehlungen novelliert: 2014 wurde das Eignungsalter auf neun bis 14 Jahre korrigiert.

Mit einem Ausgabenvolumen von knapp 805 Millionen Euro im Jahr 2013 spielen Impfstoffe angesichts von Arzneimittelkosten von über 30 Milliarden Euro eine untergeordnete Rolle: nicht einmal drei Prozent der Arzneiausgaben entfallen auf Impfstoffe.

Angesichts dessen erscheint es fragwürdig, durch Rabattverträge insbesondere für Influenza-Impfstoffe den Kreis der für eine Versorgungsregion zur Verfügung stehenden Hersteller einzuschränken und so das Risiko zu erhöhen, dass der saisonale Bedarf nicht gedeckt werden kann.

Entscheidenden Einfluss auf die Impfquote und damit auf den Bedarfsdeckungsgrad hat die Art und Intensität der ärztlichen Versorgung. Sie ist besonders engmaschig bei Säuglingen und Kleinkindern.

Die Sorge der Eltern um die Gesundheit ihrer kleinen Kinder, aber auch die starke Fokussierung der Pädiatrie auf Prävention und Vorsorge haben zu hohen Inanspruchnahmeraten der U-Untersuchung bei Kinderärzten geführt.

Wesentliche Rolle der Ärzte

Bei den Untersuchungen U3 bis U7 werden Teilnahmeraten von über 90 Prozent verzeichnet, bei der U9 im Alter von fünf Jahren fällt die Rate auf 86 Prozent etwas ab.

Die erste Jugenduntersuchung nutzen hingegen nur noch 40 Prozent der 13-Jährigen. Negative Einflussfaktoren sind niedriger Sozialstatus der Eltern oder Migrationshintergrund.

Eine enge Bindung an den Arzt ist auch bei der HPV-Impfung von Bedeutung: Die Impfquoten steigen mit dem Alter der Mädchen. Während die durchschnittliche Impfquote bei 39,5 Prozent liegt, beträgt sie bei den 17-Jährigen 55,6 Prozent.

Denkbar ist ein starker Einfluss der Gynäkologen, künftig auch der Kinderärzte, nachdem die STIKO das Alter gesenkt hat.

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