"Dieser Tag wird in die Geschichte der GKV eingehen"

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Raus aus dem GKV-System: Hoppenthaller wirft seine Erklärung in die Urne.

Raus aus dem GKV-System: Hoppenthaller wirft seine Erklärung in die Urne.

© Fotos (13): Ralf Dolberg

Er steht auf der Bühne vor tausenden von bayerischen Hausarztkollegen und wirkt für Sekunden gerührt. "Dieser Empfang macht mich sprachlos", sagt Dr. Wolfgang Hoppenthaller. Eindrucksvoll ist er in die Nürnberg-Arena einmarschiert, wie ein Star ist er zu den Klängen des Gefangenenchors aus der Oper Nabucco begeistert empfangen worden. Mehr als 7000 Menschen erheben sich von ihren Plätzen und applaudieren.

Sie werden noch oft aufstehen in den nächsten drei Stunden - mal begeistert, mal verärgert, mal protestierend - und sie werden wie eine Wand hinter Hoppenthaller stehen.

Die Nürnberg-Arena am Mittwochnachmittag: Hier, wo eigentlich die Nürnberg Ice Tigers in der Eishockey-Bundesliga um Punkte spielen, soll heute der Ausstieg der bayerischen Ärzte aus dem GKV-System gestartet werden.

Die Veranstaltung beginnt verspätet, und allein die Begründung löst Begeisterungsstürme aus: Draußen vor der Halle warten mehrere Busse mit Kollegen, die im Stau stecken geblieben sind. Da haben die Hausärzte in der Arena gerne Geduld.

"Wir haben jahrzehntelang geschwiegen", sagt Hoppenthaller, "wir haben jahrzehntelang die Faust in der Tasche geballt. Jetzt schweigen wir nicht mehr". Die Halle kocht.

"Sie können es schaffen, Sie können sich gemeinsam aus diesem maroden, verlogenen und korrumpierenden System verabschieden", lässt Patientenvertreterin Renate Hartwig keinen Zweifel. "Wir wollen für uns unsere Kinder keinen Case Manager und keinen ausgebeuteten Befehlsempfänger, wir wollen Hausärzte, die frei niedergelassen sind und die wir frei wählen können!" Hartwig hat einen Sohn, der sich nach dem Medizinstudium ins Ausland verabschiedet hat. "Er hatte hier keine Perspektive", beklagt sie, und genau das müsse sich dringend ändern.

Dr. Petra Reis-Bercowicz vom Vorstand der Hausärzteverbands hat vor der Veranstaltung im Gespräch mit Journalisten erläutert, was der drohende Hausärztemangel in ihrer Heimatregion Oberfranken bewirkt. 900 hausärztliche Praxen habe es vor vier Jahren noch in Oberfranken gegeben. Jetzt seien es nur noch 763. Jeder zweite dieser Ärzte ist älter als 58, gibt sie zu bedenken, Hausärzte gehen laut Statistik mit 61 Jahren in Rente. "Das hat verheerende Konsequenzen", sagt Reis-Bercowicz, "unsere Region schreit nach jungen Hausärzten".

Jetzt geht Martin Grauduszus ans Rednerpult, der Vorsitzende der Freien Ärzteschaft: "Gesundheit ist keine Ware", ruft er, "Patienten sind keine Kunden und Ärzte sind keine Dienstleister". Seine Botschaft: "Retten Sie die freie Praxis: Wir Hausärzte übernehmen die Macht!" Jubel, stehende Ovationen, die Halle tobt.

"Diese Ärzte kehren dem System den Rücken, und nicht den Patienten!", sagt die stellvertretende Medi-Chefin Dr. Bärbel Grashoff - ein Signal, das sich an die Adresse von Bayerns Sozialministerin Christa Stewens richtet, die das Ausstiegs-Szenario der Hausärzte überaus kritisch sieht.

Auch Grashoff macht den Kollegen Mut: "Sie gehen einen Schritt, der wegweisend sein wird für die gesamte deutsche Ärzteschaft, andere werden ihnen folgen, sagt die Ärztin.

Dann kommt Hoppenthaller. Seine Botschaft: Die wirtschaftliche Situation für die meisten Kollegen ist untragbar, Systemausstieg ist die einzige sinnvolle Option. Der Hausärztechef setzt dabei auf einen Dominoeffekt, wenn viele mitmachen. "Lassen Sie uns die normative Kraft des Faktischen herstellen", ruft er, und der Jubel ist groß. Ausgestiegene Ärzte könnten zwar keine Verträge mit den Kassen abschließen, der Hausärzteverband aber könne dies durchaus. Hoppenthallers Szenario für die Zeit nach dem Ausstieg: die Kassen werden ankommen und um Verhandlungen bitten, und die Regierung wird es nicht zulassen, dass die Versorgung zusammenbricht.

"Wenn wir jetzt unsere Zulassung zurückgeben, betreten wir nach 75 Jahren Kollektivvertragsrecht Neuland", sagt der Verbandschef. Die Drohszenarien schrecken ihn nicht: "Das sind die verzweifelten Sandkastenspiele der Potentaten eines untergehenden Unterdrückungssystems."

"Dieser Tag geht in die Geschichte der GKV ein", hat Dr. Wolfgang Krombholz, Hausärzteverbands-Vize in Bayern, zur Begrüßung prophezeit. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Der Verband hat Urnen aufgestellt, in die die Ärzte ihre Ausstiegserklärung einwerfen können.

"Alles was mich im Berufsalltag bedrückt, ist hier heute gesagt worden", zieht ein Arzt aus Landsberg am Ammersee seine persönliche Bilanz. "Zu verlieren habe ich nichts, schlimmer als es ist, kann es ohnehin nicht werden." Er nimmt seinen Briefumschlag, schreitet entschlossen zur Urne und wirft die GKV-Ausstiegserklärung hinein. "Schaun mer mal", sagt er dann und marschiert Richtung Ausgang. Christoph Fuhr

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