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Wolfgang van den Bergh, Chefredakteur

wir stehen vor einer der größten Veränderungen in der Geschichte der Krankenversicherung. Dabei ist die Einführung des Gesundheitsfonds und die Berücksichtigung der Morbidität für die Geldzuweisungen der Krankenkassen nur ein Teil des mit der Gesundheitsreform 2007 ausgelösten Umbauprozesses. Dennoch steht beides, begleitet von heftiger Kritik, als Synonym für den von der Großen Koalition eingeleiteten Paradigmenwechsel. Konkret geht es um den schrittweisen Abschied in der Gesetzlichen Krankenversicherung von der einnahmeorientierten Ausgabenpolitik der vergangenen 30 Jahre - und um den Abschied von einer restriktiven Budgetpolitik der letzten 16 Jahre.

Der Umbau fällt in eine Zeit, wo zum Zeitpunkt der politischen Weichenstellung 2007 überhaupt nicht vorhersehbar war, dass die Prognosen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung alles andere als rosig sind. Dies kann zwar zu Belastungen führen, dürfte aber die neue Gesamtausrichtung der Gesundheitspolitik kaum beeinflussen. Genauso wie in den vergangenen Jahren der wirtschaftliche Aufschwung nur bedingt und wenn, dann nur mit Zeitverzug die Einnahmesituation der Kassen verbessert hat, wird die Rezession zunächst nicht voll auf die Kassen durchschlagen. Der Schätzerkreis hat reagiert, seine Berechnungen für 2009 korrigiert und einen Fehlbetrag bei den Kasseneinnahmen mit 440 Millionen Euro prognostiziert. Und nicht nur dieser Fehlbetrag soll durch einen weiteren Staatszuschuss kompensiert werden. Die Koalition denkt auch daran, im Rahmen eines zweiten Konjunkturprogramms die Versicherten über den Beitragssatz zu entlasten.

Bereits vor dem Finanzcrash sind für niedergelassene Ärzte und Kliniker Entscheidungen getroffen worden, die für diesen Paradigmenwechsel stehen. Zum Beispiel der Honorarnachschlag in Höhe von etwa 2,7 Milliarden Euro für Haus- und Fachärzte sowie Psychotherapeuten. Daran gibt es Kritik, weil die Summe zu knapp bemessen sei, heißt es. Das Problem ist nur: Gibt es, objektive Kriterien für eine angemessene und gerechte Vergütung? Entscheidend ist vielmehr die Verlagerung des Morbiditätsrisikos auf die Krankenkassen. Damit könnte eine langjährige Forderung der Ärzte erfüllt werden, dass das Geld auch tatsächlich der Leistung folgt. Wichtig sind dafür die Instrumente, die vom Gesetzgeber vorgegeben worden sind. Kassenärztliche Vereinigungen, Berufsverbände und Krankenkassen sind dazu aufgerufen, diese Vorgaben für den Praxisalltag tauglich zu machen.

Dennoch: Ärzte empfinden den Milliarden-Honorarnachschlag als Mogelpackung. Sie sind verunsichert, weil es offenbar nur Verlierer gibt. In ihrem subjektiven Empfinden werden sie von einzelnen KV-Vorsitzenden unterstützt, die allerdings maßgeblich diesen Verhandlungsprozess mit begleitet haben. Soll dadurch etwa ein längst gestörtes Vertrauensverhältnis zur ärztlichen Basis wieder verbessert werden? Die Absicht wäre zu durchsichtig. Denn die Gründe für die Vertrauenskrise liegen in einer über Jahre verfehlten Honorarverteilungspolitik, die primär ein Ergebnis des Konflikts zwischen Haus- und Fachärzten ist. Realistischerweise konnte nicht erwartet werden, dass Ärzte eine solche Verteilungspolitik als fair empfinden. Diese Fehler werden jetzt sichtbar, weil ein bundesweiter Orientierungspunktwert regional verhandelt und auf individuelle Regelleistungsvolumen heruntergebrochen werden muss.

Auch die Kliniken erhalten zusätzliches Geld - etwa 3,5 Milliarden Euro, um die Arbeitsbedingungen für Ärzte und Pflegekräfte zu verbessern. Auch hier reicht das Geld vorne und hinten nicht, prophezeien zumindest die Verbandsvorsitzenden. Andererseits machen es privatwirtschaftlich organisierte Klinikbetreiber vor, wie Kliniken ihre Erlöse steigern können, ohne dabei die Qualität der Versorgung zu verschlechtern. Im Gegenteil: Hier wird die Qualität zu einem Marketing-Instrument, mit dem man sich offensiv dem Wettbewerb stellt und dabei sogar die Krankenkassen mit ins Boot holt.

Als Erfolg dieser Legislaturperiode kann das Ende der strikten Budgetierung gewertet werden. Dafür ist eine wichtige Voraussetzung, die Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu überwinden. Zwei Aufgaben bleiben zu tun: Dort, wo sich Ärzte in Klinik und Praxis im Wettbewerb gegenüberstehen, müssen sowohl die Vergütungssysteme als auch die Qualitätsanforderungen verträglich miteinander sein.

Stichwort Wettbewerb: Die Idee, über Wettbewerb Effizienz und Qualität zu steigern, ist der richtige Weg. Erst der Wettbewerb ermöglicht Ärzten und Kassen, die vom Gesetzgeber geschaffenen Handlungsspielräume wie etwa im Vertragsgeschäft kreativ zu nutzen. Und dennoch wird der Gesetzgeber seiner eigenen Grundidee untreu, denn er zentralisiert zugleich viele vormals dezentrale Entscheidungen - etwa die über den Beitragssatz. Die zentrale Festlegung eines einheitlichen Beitragssatzes birgt die Gefahr, das zur Verfügung stehende Geld nicht mehr dem tatsächlichen Bedarf anzupassen, sondern danach, was politisch opportun ist. Im Wahljahr 2009 wird der Gesetzgeber seine Entscheidungen entweder bei der Festlegung des Einheitsbeitragssatzes oder bei der kleinen Gesundheitsprämie korrigieren müssen, will er denn den Handlungsspielraum für Kassen im Wettbewerb erhöhen. Am ehesten dürfte dies über eine Lockerung der Regeln für die Zusatzprämie möglich sein.

Die demografische Entwicklung, die Zunahme von Patienten mit chronischen Erkrankungen und der medizinische Fortschritt lassen aus Sicht der großen Koalition keine Alternative zu dem jetzt eingeschlagenen Weg zu. Der Prozess des Umbaus der GKV wird auch weiterhin vom Gesetzgeber gestaltet werden: die nächste Gesundheitsreform kommt bestimmt. Es ist Aufgabe der Verbände und Körperschaften, diesen Prozess mit Know-how zu unterstützen. Dabei wird sich eine Bundesregierung auf Proteste und Demonstrationen einstellen müssen - immer dann, wenn Reformen wie in früheren Jahren nur zum Zwecke der Kostendämpfung und nicht im Sinne einer Fortsetzung des eingeleiteten Paradigmen-wechsels beschlossen werden sollten.

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