Teure Medizin für eine alternde Gesellschaft

Die schwarz-gelbe Koalition ist in der Wirklichkeit angekommen: in der alternden Gesellschaft. Diese Last sowie die Kosten des Fortschritts sollen die Versicherten tragen. Das ist die Konsequenz, wenn die angestrebte Finanzreform stringent exekutiert wird.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Großer Medienandrang bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages vor der Bundespressekonferenz: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit FDP-Chef Guido Westerwelle (li.) und CSU-Vorsitzender Horst Seehofer.

Großer Medienandrang bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages vor der Bundespressekonferenz: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit FDP-Chef Guido Westerwelle (li.) und CSU-Vorsitzender Horst Seehofer.

© Foto: dpa

"Um 2.12 Uhr am Samstagmorgen waren wir mit der Arbeit fertig. Seit 2.15 Uhr sagen wir Horst und Guido." Die neue Duz-Freundschaft zwischen Horst Seehofer und Guido Westerwelle soll symbolisieren: Der mit heftigen Feindseligkeiten ausgetragene Wahlkampf zwischen CSU und FDP ist Vergangenheit. Ob daraus eine lange Freundschaft wird, bleibt dahingestellt.

14 Monate will sich die neue schwarz-gelbe Koalition Zeit lassen, um eine grundlegende Gesundheits- und Finanzreform auf die Beine zu stellen. Kurzfristig bleibt alles beim alten: beim Gesundheitsfonds, dessen krisenbedingte Einnahmenausfälle der Staat abfedert.

Die Gesundheitsprämie lebt wieder auf

Der erste Schritt wird die Bildung einer Regierungskommission sein, der ein detailliertes Finanzierungskonzept ausarbeiten soll. Die Vorgaben: Es bleibt beim gegenwärtigen Leistungskatalog; das neue Konzept soll den Zugang zu medizinischen Innovationen sichern; die Gesundheitsausgaben werden von den Lohnkosten abgekoppelt; schließlich muss die Finanzierung von Medizin und Pflege in einer alternden Gesellschaft gesichert werden.

Bei diesen Vorgaben müssen sich die Versicherten auf höhere Preise für ihre Gesundheit einstellen. Denn der Arbeitgeberbeitrag von derzeit sieben Prozent wird eingefroren. Steigen die Ausgaben der Krankenkassen stärker als die Löhne, werden das die Versicherten selbst bezahlen. Deren Beiträge sollen Pauschalen sein - der Sozialausgleich wird ins Steuersystem verlagert. Unabdingbar ist daher auch die für 2011 angekündigte Steuerstrukturreform, die aber zugleich die Bürger um jährlich 24 Milliarden Euro entlasten soll. Gerade dieses Konzept hatte der ehemalige Gesundheitspolitiker Seehofer auf das heftigste bekämpft - und deshalb sogar die Brocken hingeworfen.

In der Pflegeversicherung soll die gegenwärtige Umlagefinanzierung durch eine kapitalgedeckte Finanzierung ergänzt werden: "Verpflichtend, individualisiert und generationengerecht ausgestaltet", wie es im Koalitionsvertrag heißt.

Sehr spät, aber mit der vollen Wucht, scheint nun in den Köpfen der Koalitionäre angekommen zu sein, dass Deutschland eine alternde Gesellschaft ist. Die politische Strategie dazu heißt "Wachstum, Bildung und Zusammenhalt" - der Titel des Koalitionsvertrags. Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Ich werde sehr intensiv dafür werben, dass wir uns dieser Herausforderung stellen." Eine Herausforderung, deren Existenz in der Ära ihres Vor-Vorgängers Helmut Kohl noch bestritten worden war.

Ein neues Kapitel will die schwarz-gelbe Koalition auch im Verhältnis zu Ärzten und zu freien Berufen aufschlagen. Schon die für alle Beobachter überraschende Besetzung des Gesundheitsressorts durch Philipp Rösler ist eine programmatische Ansage: der erste Nicht-Sozialpolitiker auf diesem Ministersessel, und: der erste liberale Gesundheitsminister. Rösler wird sein Ministerium ideell und ordnungspolitisch völlig neu aufstellen müssen.

Damit korrespondieren die programmatischen Aussagen des Koalitionsvertrages: "Die Freiberuflichkeit der ärztlichen Tätigkeit ist ein tragendes Prinzip unserer Gesundheitsversorgung und sichert die Therapiefreiheit. Die freie Arztwahl ist Ausdruck eines freiheitlichen Gesundheitswesens und die Basis für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Diese Struktur wollen wir aufrechterhalten."

Das bedeutet: Träger von MVZ können nur Ärzte oder Krankenhäuser sein. Die Mehrheit der Geschäftsanteile müssen bei Ärzten liegen. Nur bei Unterversorgung soll es eine Öffnungsklausel für Kliniken geben.

Das Vergütungssystem soll kritisch überprüft werden. Um Ärzten einen gesicherten Rahmen für ihre Arbeit zu geben, brauchen sie ein einfaches, verständliches Vergütungssystem, das die Leistungen adäquat abbildet. Möglichkeiten der Kostenerstattung sollen ausgeweitet werden, ohne dass Patienten dadurch zusätzliche Kosten entstehen. Die GOÄ soll an den aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst werden. Die Praxisgebühr soll überprüft werden, ebenso die Notwendigkeit von Richtgrößen wie auch die Organisation der E-Karte.

Die PKV hat wieder eine Zukunft

Dem Ärztemangel will die Koalition durch gezielte Nachwuchsgewinnung, Förderung der Studenten und Stärkung der Allgemeinmedizin in der Ausbildung begegnen. Anreize und Mobilitätshilfen soll es für Ärzte in unversorgten Gebieten geben.

Schließlich dürfen Ärzte auch wieder darauf setzen, dass die Privatversicherung eine Zukunft hat. Sie bleibt als Vollversicherung erhalten. Die Wartezeit zum Wechsel in die PKV soll von drei auf ein Jahr verkürzt werden. Ferner wird die Abgrenzung zwischen GKV und PKV überprüft.

Reformen stehen auch bei der Arzneimittelversorgung an - unter dem Stichwort "Abbau von Überregulierung". Die Vielzahl der sich zum Teil widersprechenden Instrumente soll überprüft werden - wahrscheinlich können Ärzte mit einer Entbürokratisierung rechnen. Das Bekenntnis zur Innovation ist allerdings ambivalent: Sie sollen zur Verfügung stehen, dürfen aber die Finanzierung der Kassen nicht gefährden. Direktverträge zwischen Herstellern und Kassen werden als eine Möglichkeit angesehen.

Kosten-Nutzen-Bewertungen sollen nach praktikablen, eindeutigen Kriterien erfolgen. Die Arbeit des IQWiG wird überprüft, dessen Akzeptanz für Patienten, Leistungserbringer und Hersteller soll verbessert werden. Betroffene sollen frühzeitig beteiligt werden. Und eine weitere wichtige Aussage für die Pharma-Industrie: Das allgemeine Wettbewerbsrechtsrecht soll als Ordnungsrahmen auch für die gesetzliche Krankenversicherung gelten.

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Stimmen zum Koalitionsvertrag

"Eine neue Gesundheitskultur für Deutschland"

"Wenn der Versicherte wieder zum Patienten wird und Ärzte wieder Ärzte sein können, dann ist der richtige Kurs eingeschlagen." BÄK-Präsident Jörg Dietrich Hoppe sieht in dem Koalitionsvertrag eine Chance für eine neue Gesundheitskultur in Deutschland. Entbürokratisierung und keine weitere Kommerzialisierung seien die richtigen Ziele der Koalition. Medizinischer Fortschritt und demografische Entwicklung seien als Realität anerkannt.

Als "mutigen und notwendigen Schritt" wertet der NAV-Vorsitzende Klaus Bittmann die geplante GKV-Finanzreform. Die Aussagen des Koalitionsvertrags hätten das Potenzial zu einem "großen Wurf", wenn die entworfene Skizze konsequent fortgeschrieben werde. Mit dem radikalen Umbau des Krankenversicherungssystems entstehe eine Chance für eine zukunftsträchtige Gesundheitsversorgung.

Der Hausärzteverband begrüßt, dass die Verpflichtung der Kassen zum Abschluss von Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung mit dem Verband für drei Jahre weiterbesteht. In diesem Punkt hatte sich die CSU durchgesetzt.(HL)

"Richtige Schritte gegen Überregelung in der Arzneimittelversorgung"

Einmütig begrüßen die Organisationen der pharmazeutischen Industrie und der Apotheker die Kernaussagen des Koalitionsvertrags.

VFA-Hauptgeschäftsführerin Cornelia Yzer: "Dem Gesundheitsbereich werden große Wachstumschancen eingeräumt. Hier haben die Koalitionäre die richtigen Zeichen gesetzt." Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, Pro Generika und der Bundesverband der Arzneimittelhersteller würdigen insbesondere, dass die Koalition die Überregulierung auf dem Arzneimittelmarkt abbauen und das gegenwärtige Rabattvertragssystem auf den Prüfstand stellen will. Begrüßt wird ebenso die stärkere Mittelstandsorientierung. Die Geltung des Wettbewerbsrechts auf dem GKV-Markt und die Überprüfung der Kosten-Nutzen-Bewertung so wie sie das IQWiG handhaben will, werden als notwendig und richtig bewertet.

Die Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände begrüßt das geplante Verbot von Pick-up-Stellen und die Absage an eine weitere Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbots von Apotheken.(HL)

Widersprüchliches Echo aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung

Der AOK-Bundesverband begrüßt es, dass es keine Kürzung beim Leistungskatalog geben soll. Dies solle aber für die gesamte Wahlperiode gelten, fordert AOK-Vize Jürgen Graalmann. Er plädiert erneut dafür, dass die Ausgaben für Ärzte und Kliniken an das Wirtschaftswachstum gekoppelt werden.

Tief enttäuscht reagiert Barmer-Chef Johannes Vöcking: Er sieht im Koalitionsvertrag "Mut- und Ideenlosigkeit". Den Arbeitgeberbeitrag festzuschreiben, sei "sozialpolitisch fatal und ökonomisch falsch". Vöcking wirft der neuen Bundesregierung einen "unerträglichen Lohnnebenkosten-Fetischismus" vor. Das leiste der Privatisierung Vorschub und gefährde den sozialen Frieden.

Erleichterung dagegen bei der privaten Krankenversicherung. Das gilt für den leichteren Wechsel von der GKV zur PKV, den Einstieg in die Kapitaldeckung auch bei der gesetzlichen Pflegeversicherung und die Abgrenzung von GKV und PKV. Bei der Novellierung von GOÄ und GOZ fordert die PKV wirkungsvolle Handlungsinstrumente, vor allem aber eine Kompetenz zum Vertragsabschluss mit Ärzten.(HL)

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