Ärztemangel in spe - Köpfezählen reicht nicht

Kassen geben gerne Entwarnung, wenn es um Prognosen über den Ärztemangel der Zukunft geht. Ein in Westfalen-Lippe entwickeltes Prognosemodell zeigt: Um 1000 ältere Ärzte künftig zu ersetzen, sind 1300 Jungärzte nötig. Man muss Arbeitsstunden vergleichen, nicht nur Köpfe.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Ein Professor und seine Studenten - um eine Stelle nachzubesetzen, braucht es mehr als einen Arzt.

Ein Professor und seine Studenten - um eine Stelle nachzubesetzen, braucht es mehr als einen Arzt.

© momentphoto / imago

KÖLN. Bei der Diskussion über den zu erwartenden Ärztemangel wird ein Aspekt häufig vernachlässigt: Es fehlen nicht nur junge Ärzte zum Ersatz für diejenigen, die aus der Versorgung ausscheiden. Um in einigen Jahren dieselbe Versorgungsleistung sicherstellen zu können, werden mehr Ärzte benötigt als heute.

"Was wir jetzt als Ärztemangel empfinden ist ein laues Lüftchen im Vergleich zu dem, was kommt", sagte Dr. Markus Wenning, Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKW), beim Symposium "Ärztemangel in Nordrhein-Westfalen. Was ist dran? Was ist zu tun?" in Witten. Es wurde organisiert von der ÄKWL, der Ärztekammer Nordrhein (ÄKNo) und der Universität Witten/Herdecke.

Wenning hat für Westfalen-Lippe ein Prognosemodell entwickelt. Es basiert auf folgenden Annahmen: Zehn Prozent der Ärzte arbeiten in nicht-kurativen Berufsfeldern, bei den Ärztinnen sind es 20 Prozent. Klinikärztinnen füllen im Mittel 70 Prozent einer Vollzeitstelle aus, ihre männlichen Kollegen 95 Prozent.

Unter den jungen Medizinern sind 65 Prozent Frauen. Nach Wennings Berechnungen entsprechen 1000 ältere Ärzte zurzeit 840 kurativen Vollzeitstellen. Bei 1000 jungen Kollegen sind es nur 660 kurative Vollzeitstellen. "Um 1000 ältere Ärztinnen und Ärzte zu ersetzen, benötigt man etwa 1300 junge Ärztinnen und Ärzte", berichtete er. Diese Prognose sei sogar noch optimistisch.

Es sei nicht mehr sinnvoll, Köpfe zu zählen, sondern es gehe um die Arbeitsstunden, sagte ÄKNo-Präsident Professor Jörg-Dietrich Hoppe. "Die heutige Ärztepopulation arbeitet anders, als wir es noch gemacht haben."

Um der sich abzeichnenden Entwicklung entgegenzuwirken, hält er Änderungen bei den Zulassungsbedingungen zum Medizinstudium, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Verbesserungen in der Weiterbildung für notwendig. "Die Qualität der Weiterbildung ist oberster Maßstab für die Akzeptanz eines Arbeitsplatzes."

Andreas Hustadt, Leiter des Ersatzkassenverbands vdek in NRW, erwartet vor allem Versorgungsengpässe bei älteren Menschen auf dem Land, gerade weil das hausärztliche Angebot dort geringer wird. "Es ist wichtig, dass wir das Angebot an allgemeinmedizinisch tätigen Ärzten stärken", sagte er.

Das medizinische Angebot muss nach Einschätzung Hustadts künftig flexibler organisiert werden. Für notwendig hält er eine bessere Arbeitsteilung von niedergelassenen Ärzten und Kliniken vor allem in der Fläche, die Ermächtigung von Krankenhausärzten, mobile Leistungsangebote, arztunterstützende und -entlastende Modelle wie EVA, AGNES oder VERAH und die Förderung von MVZ.

Für den Ärztemangel bei Hausärzten gebe es mehrere Gründe, sagte ÄKNo-Vizepräsident Bernd Zimmer, Allgemeinmediziner in Wuppertal. Dazu zählt er die zunehmende Bürokratie, die als unzureichend empfundene Vergütung und die zunehmende Beschneidung hausärztlicher Handlungs- und Entscheidungsspielräume.

In den 413 Kliniken in NRW sind zurzeit 1200 bis 1500 Stellen nicht besetzt, berichtete der Präsident der Landeskrankenhausgesellschaft Dr. Hans Rossels. Kleine Häuser mit 100 bis 150 Betten hätten es schwerer, Ärzte zu finden als Häuser mit 400 bis 500 Betten. "Man muss die Struktur der Krankenhäuser sehen, nicht nur die Region", sagte Rossels.

Die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) plädierte wie ÄKWL-Präsident Dr. Theodor Windhorst für die Abschaffung der Residenzpflicht. Das sehen sie als eine Möglichkeit, Ärzten die Niederlassung schmackhaft zu machen. "Wir brauchen einen riesigen Strauß an Maßnahmen und Konzepten", sagte Steffens.

Dazu gehörten auch eine kleinräumigere Bedarfsplanung und die Überprüfung der Finanzierungsbedingungen in der ambulanten Versorgung. Es dürfe nicht sein, dass sich Ärzte nicht in Stadtteilen niederlassen, in denen es keine Privatpatienten gibt. "Wenn es sich nicht lohnt, in einem bestimmten Bereich eine Praxis zu betreiben, dann ist am Finanzierungssystem etwas falsch", sagte Steffens.

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