Psychotherapeuten wollen in Betrieben stärker präsent sein

Prävention in Betrieben wird häufig auf Arbeitssicherheit reduziert. Aber Sicherheitshelme können die Seele nicht schützen. Psychotherapeuten fordern, dass auch psychische Belastungen des Arbeitsalltages stärker in den Fokus rücken.

Von Sunna Gieseke Veröffentlicht:
Sieht Handlungsbedarf: Dieter Best, Chef der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung.

Sieht Handlungsbedarf: Dieter Best, Chef der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung.

© DPtV

BERLIN. Zeitdruck, hohe Arbeitsvorgaben, Stress mit dem Chef und den Kollegen: Der Arbeitsplatz kann krank machen, darin sind sich Experten einig. Das kommt die Unternehmen und die Volkswirtschaft teuer zu stehen. Allein die entdeckten psychischen Störungen kosten die deutsche Wirtschaft nach Angaben des Statistischen Bundesamts jährlich 28,7 Milliarden Euro.

"Es ist zudem ein großes Problem, dass psychische Erkrankungen immer noch stigmatisiert sind", sagte der Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV), Dieter Best, anlässlich des Symposiums "Prävention in Lebenswelten - Was kann Psychotherapie leisten" in Berlin. Viele Betroffene schleppten sich krank zur Arbeit - aus Angst um den Arbeitsplatz.

Dieser "Präsentismus" koste die deutsche Wirtschaft laut einer Studie der Allianz mehr als neun Milliarden Euro. "Damit verursachen die betroffenen Mitarbeiter über die Jahre mehr Kosten, als entstünden, wenn sie sich einmal konsequent behandeln ließen", ergänzte der Psychologische Psychotherapeut Dr. Stefan Leidig. Das werde in den Betrieben zuwenig beachtet.

Nach Ansicht der DPtV ist es daher sinnvoll, Psychologische Psychotherapeuten frühzeitig in die betriebliche Prävention einzubeziehen. "Sie verfügen über die Kompetenzen, einen effektiven Beitrag zur Prävention zu leisten", betonte Best.

Der GKV-Spitzenverband hat zur Förderung der Prävention durch die gesetzlichen Krankenkassen bereits einen Leitfaden entwickelt. Dort fänden sich jedoch keine konkreten Anweisungen, welche Maßnahmen unter welchen Bedingungen gefördert würden, so die Kritik des DPtV. Auch werde nichts darüber gesagt, wer die Maßnahmen durchführen dürfe.

Bei den Gruppen, die als qualifizierte Anbieter aufgeführt seien, würden die Psychotherapeuten darüber hinaus gar nicht erwähnt. "Bei der betrieblichen Prävention können Psychotherapeuten ihr Wissen und ihre Fähigkeiten einbringen und zwar bevor kostenträchtige kurative Behandlungen und Rehabilitationen notwendig werden", so Best.

Der GKV-Spitzverband ist jedoch der Ansicht, dass sich Prävention ausschließlich an Gesunden richten sollte. "Das ist ein anderer Ansatz", sagte Verbands-Sprecherin Ann Marini der "Ärzte Zeitung". In Einzelprojekten könnten Unternehmen aber durchaus auch Psychologen in die betriebliche Gesundheitsförderung einbeziehen.

Leidig vertritt die Auffassung, dass in den Betrieben eine Versorgungslücke zwischen Betriebsmedizin, Betrieblicher Sozialarbeit und Arbeitssicherheit klafft. Arbeitssicherheit werde auf Körpermedizin und Suchtprävention reduziert. "Diese Versorgungslücke kann durch psychotherapeutische Intervention effektiv geschlossen werden", so Leidig.

Im angloamerikanischen Sprachraum hätten sich bereits seit Jahrzehnten sogenannte Employee Assistance Programme bewährt. Großbetriebe böten dort unter anderem einen abteilungsbezogenen Umgang mit einer möglichen Burn out-Gefährdung sowie eine frühe Identifizierung stressbedingter Arbeitsprobleme an.

"Es gibt dort deutliche Erfolge bei der Reduktion psychischer Stressreaktionen wie zum Beispiel Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen", so Leidig.

Grünen-Politikerin Maria Klein-Schmeink betonte, es müsse in der Gesellschaft neu definiert werden, was unter "guter Arbeit" verstanden werde. Arbeitnehmer müssten ständig verfügbar sein. Die Arbeitsverdichtung nehme zu. Jetzt gehe es darum, Konzepte für verschiedene Altersgruppen zu entwickeln.

Dem stimmte auch die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen und frühere Bundesgesundheitsministerin Professor Ursula Lehr zu: Die Alterung stelle die Psychotherapeuten vor neue Herausforderungen.

Lehr warnte aber davor, jeden psychisch kranken Menschen "ohne zwingenden Grund" krank zu schreiben. Denn auch das könne krank machen. "Fehlende Produktivität beeinflusst auch die Gesundheit", so Lehr.

Aus diesem Grund wollen Psychotherapeuten ihre Patienten umfassend versorgen. Der DPtV fordert daher unter anderem, dass Psychotherapeuten Heil- und Hilfsmittel verordnen können, Patienten krankschreiben und ins Krankenhaus überweisen dürfen. "Fakt ist: Wir tun es bereits. Aber wir müssen immer über Bande spielen", betonte DPtV-Vize Hans-Jochen Weidhaas.

Die Forderung nach mehr Kompetenzen stieß auf offene Ohren: Aus Sicht der SPD-Politikerin Marlies Volkmer ist durchaus denkbar, dass Psychotherapeuten Heilmittel verschreiben sowie psychisch Erkrankte krankschreiben könnten. "Das ist allerdings nicht leicht durchzusetzen", schränkte Volkmer ein.

Dem stimmte auch Barmer GEK-Vize Rolf Schlenker zu. Man könne den Psychotherapeuten bei der Fortsetzung von Krankschreibungen und Hilfsmittelverschreibungen durchaus "den kleinen Finger" reichen. Allerdings sehe er keine Möglichkeit, Krankenhauseinweisungen oder Arzneimittelverschreibungen als zusätzliche Kompetenzen für Psychotherapeuten durchzusetzen.

Klein-Schmeink plädierte dafür Möglichkeiten zu schaffen, dass vor Ort enger zusammen gearbeitet werden könne - das dürfe nicht alleine den Selektivverträgen überlassen werden. In den unterversorgten Gebieten gebe es noch zu oft starre Sektionen.

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