Die Odyssee der Alten

Psychotherapie? Das ist nur was für Verrückte! Gerade alte Menschen denken so, selbst wenn sie psychisch krank sind. Helfen könnte der Hausarzt, glauben Experten. Doch selbst dann beginnt für die meisten Patienten erst die Odyssee.

Von Sunna Gieseke Veröffentlicht:
Ist es bloß Grübeln oder eine Depression? Oft wird es nicht erkannt, und das liegt nicht selten an den Patienten selbst.

Ist es bloß Grübeln oder eine Depression? Oft wird es nicht erkannt, und das liegt nicht selten an den Patienten selbst.

© Steffen Schellhorn / imago

BERLIN. Der starrsinnige Alte, der sich nicht mehr ändern lässt: Das Bild ist nach wie vor fest in der Gesellschaft verankert - mit vielleicht dramatischen Folgen.

Nur ein Prozent der Patienten in psychotherapeutischen Praxen ist älter als 75 Jahre, doch fast jeder vierte Ältere hat psychische Krankheitssymptome.

"Die Schranken in den Köpfen sind noch zu groß. Psychotherapien wirken auch bei älteren Menschen", sagte Dieter Best, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV), anlässlich des Symposiums "Psychotherapie in einer älter werdenden Gesellschaft" in Berlin.

Die ältere Generation habe noch viele Vorbehalte gegenüber einer Psychotherapie, so Best.

Gerade Hausärzte könnten eine zentrale Rolle in der psychotherapeutischen Versorgung erhalten, da sie ihre älteren Patienten regelmäßig zu Gesicht bekämen. Sie könnten die Patienten langsam an die Möglichkeit einer Psychotherapie heranführen.

"Der Hausarzt muss jedoch entsprechend für Altersbilder geschult werden", fordert Altersforscherin und Bundesministerin a.D. Professor Ursula Lehr.

Die Ärzte hätten häufig noch zu wenig Kenntnisse über die Probleme der Älteren: "Das Alter hat viele Gesichter", so Lehr.

Ein Problem: Überall gebe es die Warnung vor der Zunahme demenzieller Erkrankungen. Doch in Anbetracht dessen drohten die anderen psychischen Erkrankungen unterschätzt zu werden.

Zwei Monate bis zum Therapieplatz

Aber auch die Psychotherapeuten müssen umdenken und vermehrt ältere Patienten aufnehmen, ergänzt Professor Hartmut Radebold, Gründer des Lehrinstituts für Alterspsychotherapie in Kassel.

Zudem bräuchte es - in allen psychotherapeutischen Schulen - gemeinsame Therapieziele für die Älteren. "Ältere Menschen haben oft andere psychische Störungen als junge", so Barbara Lubisch, stellvertretende Bundesvorsitzende der DPtV.

Es gebe kaum Essstörungen, keine Burn-out-Syndrome, dafür Depressionen und somatoforme Störungen.

Professor Andreas Maercker von der Universität Zürich betonte, dass vor allem posttraumatische Belastungsstörungen bei den Kriegsgenerationen nicht übersehen werden dürften.

Fakt ist aber auch: Selbst, wenn das alles erkannt ist, gibt es noch immer Hürden auf dem Weg, einen Therapieplatz zu finden. Vor allem die langen Wartezeiten sind ein Problem.

Durchschnittlich dauert es zwei Monate, bis Patienten ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten erhalten. Einige Therapeuten haben Wartelisten von mehr als einem Jahr.

"Absolut inakzeptabel", schimpfen Experten. Psychische Störungen könnten sich dadurch chronifizieren. Hinzu kommen lange Anfahrtswege.

Eines von vielen Beispielen sind kleinere Ortschaften im Osten Schleswig-Holsteins: Die nächsten behindertengerechten Praxen sind zum Teil rund 30 Kilometer entfernt. Für eine 78-jährige halbseitig gelähmte Frau eine nahezu unüberbrückbare Entfernung.

Unter falschen Prämissen gestartet

Die psychotherapeutische Versorgung auf dem Land sei "dramatisch", sagte auch Best. Schuld an der Misere seien die Verhältniszahlen. In ländlichen Gebieten gelten vier Psychotherapeuten je 100.000 Einwohner als ausreichend für die Versorgung.

Zum Vergleich: In Großstädten sind 40 Psychotherapeuten für die gleiche Anzahl zugelassen - dann gilt ein Bereich als hundertprozentig versorgt. Diese Diskrepanz ist für die Experten kaum nachvollziehbar.

Inzwischen hoffen die Psychotherapeuten jedoch auf Besserung: Die Bedarfsplanung wird in den kommenden Monaten reformiert und damit könnten mehr Sitze für die Psychotherapeuten entstehen. Der tatsächliche Bedarf ist bislang jedoch nicht genau ermittelt.

"Wir brauchen mindestens zusätzliche 2000 Sitze", so Best. Die Bundespsychotherapeutenkammer sprach kürzlich von 4000 zusätzlichen Sitzen, die benötigt würden. Aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes hingegen sind die meisten Regionen überversorgt.

Dr. Rainer Hess, noch bis Ende Juni Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, sieht eine Ursache des Problems an der Regelung durch das Psychotherapeutengesetz aus dem Jahr 1999.

Seitdem gilt eine Region als ausreichend versorgt, wenn es in ihr so viele psychotherapeutische Praxen gebe wie am dem Stichtag 31. August 1999. "Wir sind dadurch unter falschen Voraussetzungen gestartet", so Hess.

Mehr Sitze für Psychotherapeuten müssten dorthin, wo sie nötig seien. Künftig werde es zudem mehr Spielräume in den Regionen geben. So könne der Bedarf vor Ort ermittelt werden.

Wie viele Psychotherapeuten braucht das Land?

Was denn nun: Zu wenige oder zu viele? "Wir brauchen mehr Sitze", fordern Psychotherapeuten - zwischen 2000 und 4000 zusätzliche Niederlassungsmöglichkeiten seien notwenig. Die meisten Regionen seien bereits jetzt überversorgt, halten die Kassen dagegen.

Wahrscheinlich wird die Reform der Bedarfsplanung etwas Licht ins Dunkel bringen: Mit dem Konzept der KBV könne der Ist-Zustand des Bedarfs ermittelt werden, sagt KBV-Sprecher Roland Stahl. Therapeuten und KBV wünschen sich für die Finanzierung der zusätzlichen Sitze einen "dritten Topf".

Experten halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass es dafür Mittel außerhalb der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung geben wird. Fakt ist: Die Menschen werden älter. Für die künftigen Älteren wird die Hemmschwelle nicht mehr so groß sein, einen Therapeuten aufzusuchen.

Altersforscherin Ursula Lehr sieht wegen der demografischen Entwicklung einen wachsenden Bedarf und mehr Arbeit auf die Therapeuten zukommen. Und auch die Versorgung in den Heimen müsse verbessert werden.

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