Abgekoppelt

Hamburger Ärzte fühlen sich wie ausgepresste Zitronen

In Hamburg kommen 1700 Ärzte und Praxismitarbeiter zu einer Vollversammlung, mit roten Karten und ausgepressten Zitronen in der Hand. Vor vier Jahren wurden sie von den bundesweiten Honorarenwicklungen abgekoppelt. Jetzt drohen mit Praxisschließungen.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:

Hamburg. Gut 1500 Sitze. Wo sonst Musicals und andere Massenveranstaltungen stattfinden, wollen sich Hamburger Ärzte versammeln. Können Ärzte einer Stadt einen solchen Saal füllen? Sie können. Kurz vor Beginn der Vollversammlung im CHH schauen die Funktionäre auf dem Podium auf volle Ränge.

Viele Ärzte sind in weißer Arbeitskleidung gekommen, fast alle haben die am Eingang verteilten roten Karten mit einer ausgepressten Zitrone in der Hand. Denn genauso fühlen sie sich, seit sie vor vier Jahren von der damals positiven Honorarentwicklung auf Bundesebene abgekoppelt wurden.

"Another four years?" ruft Kinderarzt Dr. Stefan Renz in Anspielung an den vor wenigen Stunden wiedergewählten Barack Obama ins Mikrofon. Und anders als die amerikanischen Wähler gibt er die Antwort: "Nein!"

Denn es waren "vier verlorene Jahre" für die Hamburger Ärzte, wie KV-Chef Dieter Bollmann vorrechnet. Allein um elf Prozent seien die Praxiskosten in diesem Zeitraum gestiegen.

Mit zehn Millionen Euro jährlich mussten die Fachärzte die Leistungsentwicklung in der Psychotherapie bezahlen - ohne Ausgleich. Die Hausärzte erbringen wegen der Morbiditätsentwicklung immer mehr unentgeltliche Leistungen, ohne dass dies außerhalb von Fachkreisen jemanden interessiert.

Warnung vor existenziellen Bedrohungen

Zugleich müssen die Ärzte in der Hansestadt zusehen, wie andere Bundesländer in der Honorarentwicklung an ihnen vorbei ziehen. Dr. Michael Späth ist der Standespolitiker mit der meisten Erfahrung im Saal. Dass er einmal vor existenziellen Bedrohungen seiner Hamburger Kollegen warnen müsste, schien vor einigen Jahren noch unrealistisch.

Heute scheut sich Späth nicht, dieses Szenario zu prognostizieren, wenn sich die Kassen nicht bewegen. "Es gibt keine Region in Deutschland, die so gelitten hat." Er verweist auf viele Angestellte in Hamburger Praxen, die wegen steigender Kosten kein Weihnachtsgeld mehr bekommen.

Hausarzt Dr. Stefan Hofmeister ergänzt: "Wir reden nicht über unsere Einnahmen, sondern über Umsätze, die unsere Betriebe bestehen lassen." Und an den Selbstverwaltungspartner: "Krankenkasse heißt nicht, dass man Kasse macht."

"Wir werden von den Kassen bestreikt"

Wie auf Bundesebene unterstützt Dr. Dirk Heinrich auch in der Hansestadt den Protest. Der HamburgerHNO-Arzt ist erbost, weil die Kassen noch kein akzeptables Angebot vorgelegt haben. Er verweist auf den von vielen Verbänden getragenen Protest auf Bundesebene und den Schulterschluss zwischen Verbänden mit der KV.

Für Hamburg stellt er fest: "Wir werden von den Kassen bestreikt und was macht die Ärzteschaft? Sie arbeitet weiter. Wollen wir warten, bis wir liquidiert werden?"

Das wollen scheinbar viele im Saal nicht. Die Hausärzte Dr. Volker Lambert und Dr. Silke Lüder rufen ihre Kollegen dazu auf, mit Maßnahmen wie ganztägige geschlossene Fortbildungen oder unerledigte Kassenanfragen Nadelstiche zu setzen.

Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, ohne Praxisschließungen Forderungen durchsetzen zu können. Von den Kassen erwarten die Ärzte eine Anhebung der Gesamtvergütung um gut zehn Prozent, um Kostensteigerungen, Morbiditätsentwicklung und Leistungsdynamik in der Psychotherapie auszugleichen. Außerdem hofft man, damit auch Haus- und Heimbesuche angemessener vergüten und Praxen der Grundversorgung besser fördern zu können.

Kassen fehlt "jedes Verständnis"

In der Lesart der Kassen entspricht dies dem Dreifachen dessen, was laut Bundesempfehlung auf Hamburg entfallen würde. Kathrin Herbst, Leiterin des Verbandes der Ersatzkassen Hamburg (vdek), fehlt dafür "jedes Verständnis". Sie kritisierte nach der Versammlung, dass die Ärzte "auf Maximalpositionen verharren".

Auch AOK und BKK stellten klar, dass sie die Forderungen der Ärzte nicht erfüllen wollen. Sie verwiesen auf die jährliche Gesamtvergütung von 890 Millionen Euro, warfen der KV vor, mit ultimativen Forderungen die Verhandlungen zu belasten und forderten die Ärzte auf, sich zum Kompromiss auf Bundesebene zu bekennen - dies beschere der Hansestadt ein Honorarplus von 25 Millionen Euro.

Kompromiss immer unwahrscheinlicher

Dieser Kompromiss erscheint nach der Versammlung immer unwahrscheinlicher. Lambert sprach von einem "tiefen Graben zwischen Ärzten und Kassen."

Renz machte klar: "Wir sind nicht die Leistungserbringer der Kassen."

Heinrich verdeutlichte: "Wir haben die Macht, die wir nutzen können und wir sollten das tun." Hofmeister sprach davon, dass die Geduld der Ärzte zu Ende ist: "Es muss schnell was passieren."

Also Praxisschließungen? Dies soll die Basis bei einer Urabstimmung entscheiden, wenn sich die Kassen nicht bewegen.

Heinrich ließ aber durchblicken, dass Ärzte daran eigentlich kein Interesse haben: "Praxisschließungen sind ein legitimes, aber das letzte Mittel. Wir werden verantwortungsvoll damit umgehen."

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