ZNS-Erkrankungen

Ein Fall krasser Unterversorgung

In kaum einer medizinischen Disziplin ist die Kluft zwischen Behandlungsbedarf und Versorgung so groß wie bei ZNS-Erkrankungen. Der Spitzenverband ZNS geht jetzt in die Offensive.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Alkohol und Depression: Nicht einmal jeder dritte Patient wird adäquat behandelt.

Alkohol und Depression: Nicht einmal jeder dritte Patient wird adäquat behandelt.

© Paul von Stroheim/Imago

KÖLN. Der Handlungsbedarf ist groß: Rund ein Drittel der Erwachsenen leidet im Laufe eines Jahres an einer psychischen Störung, nur ein Drittel von ihnen erhält eine Therapie. Psychische Erkrankungen sind inzwischen die zweithäufigste Ursache für krankheitsbedingte Ausfälle von Arbeitnehmern.

Das große Leid, das für die Betroffenen mit den Erkrankungen verbunden ist, wird verstärkt durch die Tatsache, dass es trotz aller Fortschritte noch immer Stigmatisierung gibt.

"Jüngere Studien haben gezeigt, dass psychische und neurologische Erkrankungen inzwischen zu den wichtigsten Krankheiten gehören", sagt Dr. Frank Bergmann, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte und Sprecher des neu gegründeten "Spitzenverbands ZNS".

Bergmann verweist auf die europaweite Erhebung einer internationalen Forschergruppe um Professor Hans-Ulrich Wittchen vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Dresden.

Danach leiden jedes Jahr 38,2 Prozent der EU-Bevölkerung an einer psychischen Störung, weniger als ein Drittel der Betroffenen wird behandelt. Die Forscher stufen Alkoholabhängigkeit, Demenz, Depression und Schlaganfall als Krankheiten mit der höchsten Belastung für die Patienten ein.

Sie mahnen konzertierte Aktionen und mehr Forschungsmittel an, damit sowohl Therapie als auch Prävention verbessert werden können. Denn darin liegt für die Wissenschaftler die zentrale Herausforderung für die Gesundheitspolitik des 21. Jahrhunderts.

"Es gibt wenige Gründe anzunehmen, dass das Problem kleiner wird", sagt Bergmann. Besondere Sorgen macht ihm, dass nach wie vor so viele Patienten nicht oder nicht angemessen versorgt werden. Nur die Hälfte aller Depressionen werde überhaupt erkannt.

Sechs Wochen nach der Diagnose werden nur noch zehn Prozent der Patienten adäquat therapiert. Bei Demenzerkrankungen sehe es nicht besser aus. "Wir haben Unterversorgung", betont der Nervenarzt.

Bessere Koordination nötig

Augenscheinlich ist sie bei den oft unzumutbar langen Wartezeiten für Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen. Sie seien nicht akzeptabel, sagt er. "Patienten mit schwerer depressiver Symptomatik müssen selbstverständlich umgehend behandelt werden, hier geht es unter Umständen um Leben und Tod."

Die frühzeitige und intensive Vernetzung aller Beteiligten ist für Bergmann ein entscheidender Faktor, um die Versorgung zu verbessern. Haus- und Fachärzte müssten an einem Strang ziehen, um die Chronifizierung der Erkrankungen zu verhindern. "Die Hausärzte müssen früher zum Facharzt überweisen, die Fachärzte müssen Termine zur Verfügung stellen."

Notwendig sei die Entwicklung regional abgestimmter Behandlungspfade. Sie sollten die Versorgung der Patienten im ambulanten und im stationären Sektor umfassen, aber auch benachbarte Gesundheitsberufe einbeziehen.

Die erforderlichen Strukturen seien mit dem aktuellen Vergütungssystem nicht darzustellen. "Vielmehr stehen die herkömmlichen Finanzierungsmodelle, die strikt nach Klinik - Praxis - Reha und gegebenenfalls Psychotherapie und hausärztlicher Versorgung trennen, einer patientenorientierten Vernetzung im Weg."

Die Vergütung ist ohnehin ein großer Schwachpunkt des aktuellen Systems, sagt er. "Wir haben immer noch die Situation, dass die zeitintensive Behandlung von psychisch und neurologisch Erkrankten nicht ausreichend honoriert wird."

Die pauschalierte Vergütung stehe dem hohen individuellen Betreuungsbedarf der Patienten entgegen. Der Einsatz für vernetzte Versorgungsstrukturen und für eine adäquate Vergütung stehen auf der Agenda des "Spitzenverbands ZNS", zum dem sich die Berufsverbände der Nervenärzte, Neurologen, Psychiater sowie der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zusammengeschlossen haben.

"Schnellstmöglich müssen vor allem Gesprächsleistungen außerhalb des Regelleistungsvolumens und mit festen Preisen vergütet werden", fordert Bergmann.

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