Gassen im Interview

"Ich wäre auch nicht in Jubelschreie ausgebrochen"

Dr. Andreas Gassen ist für den Honorar-Abschluss scharf kritisiert worden. Im Interview zeigt der KBV-Chef Verständnis für die Kritiker in den eigenen Reihen. Außerdem spricht er über das Innenleben der KBV und die Zukunft der Profession.

Veröffentlicht:
Dr. Andreas Gassen zeigt Verständnis für die Kritiker aus den eigenen Reihen.

Dr. Andreas Gassen zeigt Verständnis für die Kritiker aus den eigenen Reihen.

© Maurizio Gambarini / dpa

Ärzte Zeitung: Herr Doktor Gassen: Jetzt, da sich der Pulverdampf verzogen hat. Nennen Sie uns drei Gründe, warum 850 Millionen Euro mehr Honorar 2015 ein gutes Verhandlungsergebnis sind.

Dr. Andreas Gassen: Zunächst einmal ist positiv, dass die Selbstverwaltung ohne Schiedsamt ausgekommen ist. Das sollte ja eigentlich der Normalfall sein. In den vergangenen Jahren hatte sich die Entwicklung der Verhandlungen mit dem fast schon regelhaften Anrufen des Erweiterten Bewertungsausschusses allerdings in ihr Gegenteil verkehrt.

Der erste Grund ist also der Kompromiss an sich. Der zweite, dass mit rund 850 Millionen Euro mehr Honorar ein besseres Ergebnis erzielt wurde als im vergangenen Jahr. Und das obwohl sich die Morbiditätsrate der Nulllinie nähert. Es gab einfach keine Ereignisse wie Grippewellen oder Dauerglatteis mit entsprechend vielen Knochenbrüchen. Krankheitslast lässt sich nicht verhandeln, die ergibt sich.

Zum dritten gibt es weitere extrabudgetäre Leistungen mit dem Geld für die fachärztliche Grundversorgung und dem für den Ausbau der Strukturen für die hausärztliche Versorgung.

Von Seiten der Ärzteverbände ist Ihnen vorgeworfen worden, Sie hätten zu schnell klein beigegeben, ohne den Erweiterten Bewertungsausschuss anzurufen.

Dr. Andreas Gassen

Aktuelle Position: Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Werdegang/Ausbildung: Gassen studierte Humanmedizin in Düsseldorf.

Karriere: Seit 1996 als Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie in einer Gemeinschaftspraxis in Düsseldorf niedergelassen; seit 1. März Vorstandsvorsitzender der KBV, zuständig für die fachärztliche Versorgung.

Gassen: Das Schiedsamt hat in den vergangenen Honorarrunden aus meiner Sicht eher die Position der Kassen begünstigt. Die extrabudgetären Leistungen, die wir nun erreicht haben, hätten wir wahrscheinlich nicht durchgesetzt. Die aber bedeuten den Einstieg in feste Preise.

Haben Sie die Reaktionen der Verbände unterschätzt?

Gassen:  Würde ich noch Verbandsverantwortung tragen, wäre ich wahrscheinlich auch nicht in Jubelschreie ausgebrochen. Ich habe Verständnis dafür, dass die Verbände ihre Positionen radikaler als die KBV formulieren. Das müssen die Verbände auch tun.

Der Verhandlungsspielraum der Körperschaft jedoch ist durch das SGB V limitiert. Die Fragen bei den Äußerungen von Verbandsseite sind aber: Was ist kritisch? Und was ist unsachlich

Die Erwartungshaltung war ja hoch, nachdem Sie 5,3 Milliarden Euro ins Spiel gebracht hatten. Haben Sie die Forderungen der Ärzte falsch kommuniziert?

Gassen: Ich habe im Vorfeld versucht auszudrücken, wo der Bedarf liegt. Die fünf Milliarden Euro habe ich aber nie als Forderung formuliert. Es ist aber klar: Wenn eine Zahl im Raum steht, die so griffig ist, dann nutzen Journalisten sie für ihre Schlagzeilen.

Es ist also zunächst nicht gelungen, klar zu machen, dass es sich dabei um ein Ziel handelt, das nicht in einem Schritt erreicht werden kann. Diese Schritte sind aber schon in der Welt.

Wir haben die laufenden Honorarverhandlungen, wir werden im nächsten Jahre eine weitere Honorarrunde haben, und bis Ende des kommenden Jahres steht die Reform des Erweiterten Bewertungsmaßstabs an. Das sind alles Einzelschritte auf diesem Weg. Die Anpassung des kalkulatorischen Arztlohns zum Beispiel gehört vom Verfahren her in den EBM.

Es ist eine EBM-Kalkulation, die Sie dafür ändern müssen. Eine Verhandlung über die Anpassung des Orientierungspunktwerts ist dafür nicht der richtige Zeitpunkt.

Warum hat die Entwicklung des kalkulatorischen Arztlohns in den vergangenen Honorarrunden eigentlich gar keine Rolle gespielt? Haben Ihre Vorgänger hier einen Fehler begangen, nicht auf eine kontinuierliche Anpassung zu pochen?

Gassen: Nein. Als Vorwurf möchte ich das nicht erheben. Die Anpassung des kalkulatorischen Arztlohns gehört in die EBM-Reform. Die haben wir nicht jedes Jahr. Man hätte sich eventuell 2002, als der EBM aus der Taufe gehoben worden ist, auf ein Verfahren einigen können, diesen Wert immer automatisch anzupassen. Das hat man nicht gemacht.

Das gilt auch für die GOÄ, in der ein gigantischer Nachbesserungsbedarf aufgelaufen ist.Den kann man realistisch gesehen auch nicht in einem Jahr aufholen.Wir müssten eigentlich regelhaft GOÄ und EBM anpassen. Das gelingt uns nur unvollständig. Wenn wir das hätten, könnten wir uns die Honorarrunden sparen. Denn dann gäbe es ja ein verlässliches Instrument, das völlig transparent Honorarsteigerungen abbilden würde.

Es war das erste Mal, dass beide KBV-Vorstände an den Verhandlungen teilgenommen haben. Ist das eine neue Strategie?

Gassen: Wir haben uns im Vorfeld lange in den Gremien ausgetauscht. Dabei hat sich herausgestellt, dass es bei allen Gemeinsamkeiten strategisch unterschiedliche Ausrichtungen des haus- und fachärztlichen Bereichs gibt. Die Fachärzte haben sich tendenziell auf die Fahne geschrieben, zu festen Preisen vergütete Einzelleistungen zu fordern.

Die Hausärzte fordern dagegen Änderungen der Strukturen. Daher ist es nachvollziehbar, dass die für die Hausärzte zuständige Kollegin Regina Feldmann die Vorstellungen der Hausärzte in den Verhandlungen vertritt. Wir gehen deshalb trotzdem als KBV gemeinsam rein, aber wir bilden die unterschiedlichen Interessen auch personell ab.

Damit setzen Sie nach außen ein politisches Signal. Ist das gemeinsame Auftreten in den Verhandlungen ein Vorgriff auf das, was uns der Satzungsausschuss der KBV im September präsentieren wird?

Gassen: Ich halte die Paritätsdiskussion, auf die Sie mit Ihrer Frage abstellen, für überhöht und nicht sachgerecht. Für Kollegen an der Basis ist das eine völlig abgehobene Funktionärsdebatte, weil das Zusammenspiel von Haus- und Fachärzten in der Versorgung in der Regel hervorragend funktioniert. Es kommt darauf an, wie wir gemeinsame Selbstverwaltung leben.

Jede Seite soll ihre Interessen artikulieren. Eine andere Geschichte ist es aber, wenn der Gesetzgeber die Vertreterversammlung quasi per ordre de mufti je zur Hälfte in Haus- und Fachärzte aufteilt. Das ist mit Blick auf die Regionen unsachgemäß. Zudem stellt es demokratische Prinzipien auf den Kopf und wäre ohnehin durch das SGB V nicht einmal in Ansätzen gedeckt.

Wenn sich der Gesetzgeber das so vorstellt, dann muss er Nägel mit Köpfen machen und das SGB V umschreiben. Er muss sich vom gemeinsamen Versorgungsauftrag verabschieden und in der Konsequenz drei Versorgungsbereiche abbilden, nämlich Hausärzte, Fachärzte, Psychotherapeuten. Dann muss er sich auf allen Ebenen mit jeweils drei Körperschaften auseinandersetzen.

Das will wahrscheinlich keiner. Deshalb sehe ich die Auseinandersetzung um die Parität eher gelassen.Eine andere Frage ist, wie gehe ich innerhalb der Körperschaft damit um. Darauf zielt der Satzungsausschuss. Er hat Lösungsmechanismen erarbeitet, die wir auf der Vertreterversammlung vorstellen werden.

Ein Thema sind die haus- und fachärztlichen Themen, die laut Koalitionsvertrag von den jeweiligen Seiten getrennt bearbeitet werden sollen. Je mehr man sich aber damit befasst, stellt man fest, es gibt grundsätzlich kaum Themen, die ausschließlich haus- oder fachärztlich sind. Situativ wird es sie geben. Aber bei Themen wie EBM, Honorar, Notdienste werden immer beide Bereiche angesprochen.

Der Gesetzgeber will ja auch bei den vermeintlich zu langen Wartezeiten eingreifen. Bleibt das Termin-Management in den Händen der Ärzte?

Gassen: Alles andere wäre aus meiner Sicht nicht akzeptabel. Das Wartezeitenthema ist völlig überhöht. Wir haben im internationalen Vergleich sensationell kurze Wartezeiten. Wenige Ausreißer einmal ausgenommen.

Dagegen steht eine erschreckende Größenordnung nicht wahrgenommener Termine. Wenn wir alle nicht wahrgenommenen Termine einfach anderweitig vergeben könnten, hätten wir überhaupt kein Wartezeitenproblem.

Es ist nicht erträglich, dass von außen in die Arbeitsgestaltung eines freiberuflichen, persönlich haftenden Unternehmers eingegriffen werden soll. Zum zweiten verträgt sich das nicht mit einer gedeckelten Gesamtvergütung. Die Politik kann doch nicht unbegrenzt Leistungen von uns fordern, und die dann noch ständig beschleunigt abrufen wollen.

Einen Tod muss man sterben. Entweder sagt man, wir haben eine gedeckelte Gesamtvergütung und damit auch eine gedeckelte Leistungsmenge. Oder man sagt, wir bezahlen alle Leistungen.

Ist in dieser Situation eine Diskussion über Ärzte-Rankings und Zweitmeinung nicht absurd?

Gassen: Das geht nicht zusammen. Ich kann nicht mehr Leistung, nettere Leistung und für den Patienten komfortablere Leistung verlangen und gleichzeitig sagen, wir erhöhen aber die Vergütung nicht.

Wenn es nicht funktionieren sollte, dass wir aus der gedeckelten Gesamtvergütung herauskommen, und wir weiterhin ein hohen Pensum auch unbezahlt erbringen, dann muss die Körperschaft im Bedarfsfall die Leistungsmenge begrenzen.

Das heißt, dass wir Regelungen schaffen müssen, wie sie im Paragrafen 87 des SGB V auch vorgesehen sind, dass der Arzt eine feste Kalkulationsgröße für die Höhe seiner Vergütung hat. Und dann muss man versuchen, die Leistungsmenge darüber anzupassen.

Das geschieht ja auch schon über den drohenden Ärztemangel. Greifen die Anreize für junge Mediziner, sich niederzulassen?

Gassen: Wir werden uns mit verringerten Arztzeiten am Patienten abfinden müssen. Die nachrückende Medizinergeneration arbeitet nicht mehr 55 Stunden in der Woche - weder in der Praxis noch in der Klinik. In der Klinik tun sie das jetzt schon nicht mehr - Stichwort Arbeitszeitschutzgesetz.

Die Ankündigung, die Krankenhäuser verstärkt für die ambulante Versorgung zu öffnen, ist daher ein stumpfes Schwert. Auch in den Kliniken ist das Personal knapp.

Man muss akzeptieren, dass wir in einen relativen Arztmangel hineinlaufen. Man ist gut beraten, das nicht mit Druck und Drohungen anzugehen. Wenn man die ambulante Niederlassung erhalten will, sollte man unter anderem auch sichere Vergütungsbedingungen schaffen.

Ist ein Landarztzuschlag, wie ihn der Sachverständigenrat vorgeschlagen hat, hilfreich?

Gassen: Das Geld alleine ist kein ausreichender Stimulus. Gerade die Landärzte sind die Spitzenverdiener unter den Hausärzten. Und die Hausärzte bilden beim Honorar schon lange nicht mehr die Schlusslichter. Sie arbeiten aber auch überdurchschnittlich viel. Es ist auch das Umfeld.

Der Lebenspartner braucht einen Arbeitsplatz, die Kinder eine Schule. Wenn ich ländliche Regionen sehe, wo es weder Supermarkt noch Tante Emma-Laden, Apotheke oder Bäcker gibt, dann weiß ich nicht, wie man glaubwürdig vertreten soll, dass dort unbedingt eine Arztpraxis hin muss.

Wir haben den Trend zur Urbanisierung. Wenn ein Arzt nicht aufs Land will, wird man ihn auch nicht mit einem 50-prozentigen Zuschlag dorthin bringen.

Ist die Bedarfsplanung, die die KBV im GBA ja mit berät und beschließt, dann eigentlich Makulatur?

Gassen: Die neue Bedarfsplanung ist besser und präziser, als sie war. Aber von Planung alleine wachsen keine neuen Ärzte auf den Bäumen. Planung stößt immer an Grenzen und funktioniert meist nie hundertprozentig.

Müssen wir uns von der wohnortnahen Einzel-Praxis-Versorgung verabschieden und mehr auf medizinische Versorgungszentren setzen?

Gassen: Flächenversorgung können Sie nicht durch Bündelung von vielen Sitzen an einem Ort lösen. Dann werden die Wege länger.

Interessanterweise ist die Unzufriedenheit mit der Erreichbarkeit von Ärzten in Berlin am höchsten, wo sie praktisch überall eine Praxis fußläufig erreichen können.

Es ist wichtig, dass bei einem Verkehrsunfall schnell ein Rettungswagen da ist. Ich kann mir aber vorstellen, dass man für eine normale Untersuchung bei einer nicht lebensbedrohlichen Erkrankung auch einmal 15 Minuten fährt.

Welche Auswirkungen können die sich abzeichnenden Veränderungen der medizinischen Versorgung auf die Freiberuflichkeit haben?

Gassen: Die Freiberuflichkeit ist nicht von der Art der Berufsausübung abhängig, sondern vom Beruf selbst. Sie macht sich daran fest, ob der Arzt frei von äußeren Zwängen seine Tätigkeit am Patienten ausüben kann.

Wir müssen uns als KV-System aber auch für die Veränderungen der Arbeitswirklichkeit öffnen. Es gibt zunehmend angestellte Ärzte in der Versorgung. Das erfordert ein Umdenken. Wenn die nachwachsende Generation sich so aufstellt, dann ist das ihr Wunsch, und wir werden das berücksichtigen.

Der Gesetzgeber will beim Versorgungsstrukturgesetz nachbessern. Was müsste aus Sicht der KBV geregelt oder nicht geregelt werden?

Gassen: Wir haben eine älter werdende Bevölkerung, die mehr Versorgungsbedarf hat. Da wäre es sinnvoll, wenn der Gesetzgeber Möglichkeiten schaffen würde, flexibel zu reagieren und keine Regularien, die alle einengen. Die Medizinergeneration von heute hat mehr Angebote als nur in die Versorgung zu gehen. Von daher muss die Arbeit als Arzt am Patienten, sei es in der Praxis oder in der Klinik, attraktiv gestaltet werden.

Das schafft man aus meiner Sicht nicht in einem europäischen Markt, der frei ist und zur Mobilität einlädt, wenn ich hierzulande ein Werk an Regularien, Pflichten und Beschränkungen aufbaue. Ich glaube, das ist der falsche Weg.

Das Interview führten Wolfgang van den Bergh und Anno Fricke.

Mehr zum Thema

Kommentar

Regresse: Schritt in die richtige Richtung

Bürokratieabbau in der Praxis

Kinderärzte fordern Abschaffung der Kinderkrankschreibung

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Ambulantisierung

90 zusätzliche OPS-Codes für Hybrid-DRG vereinbart

Doppel-Interview

BVKJ-Spitze Hubmann und Radau: „Erst einmal die Kinder-AU abschaffen!“

Lesetipps
Der Patient wird auf eine C287Y-Mutation im HFE-Gen untersucht. Das Ergebnis, eine homozygote Mutation, bestätigt die Verdachtsdiagnose: Der Patient leidet an einer Hämochromatose.

© hh5800 / Getty Images / iStock

Häufige Erbkrankheit übersehen

Bei dieser „rheumatoiden Arthritis“ mussten DMARD versagen