60 Jahre

KV-System mit Höhen und Tiefen

Es ist der Markenkern des deutschen Korporatismus: das KV-System mit dem Monopol für die ambulante Medizin. Doch seit Anfang der 1990er Jahre ist das System in der Krise.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Die Fassade der KBV-Zentrale in der Hauptstadt.

Die Fassade der KBV-Zentrale in der Hauptstadt.

© Michaela Illian

BERLIN. Vor 60 Jahren schuf der Deutsche Bundestag in der noch jungen Bundesrepublik die Rechtsgrundlagen für das föderal gegliederte System der Kassenärztlichen Vereinigungen als Körperschaften des Öffentlichen Rechts.

Die Kernelemente sind: Sicherstellung der ärztlichen Versorgung als öffentlicher Auftrag, im Gegenzug Anspruch auf Vergütung nach einem Kollektivvertrag sowie eine Schiedsamtslösung, die dazu führt, dass es keine vertragslosen Zustände gibt. Damit verbunden ist der Verzicht der Vertragsärzte auf ein Streikrecht.

Der Gesetzgeber knüpfte damit an die mit der Brüning'schen Notverordnung von 1931 geschaffenen Kollektivvertragslösung zwischen KVen und Krankenkassen an, womit das bis dahin praktizierte Selektivvertragssystem abgelöst wurde.

Schon 1933 zeigte sich aber auch, wie geeignet das KV-System war, vom Staat missbraucht zu werden: Die Nazis schafften die regionalen KVen ab, schalteten sie in Verwaltungen unter der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands gleich und unterstellten das System staatlicher Führung.

Die Schandtaten der ärztlichen "Selbst"-Verwaltung, vor allem an ihren jüdischen Kollegen, wurden erst spät aufgearbeitet.

Monopol für ambulante Medizin

Im Prinzip ging es 1955 darum, das Kollektivvertragssystem und den Sicherstellungsauftrag zu retten und dies mit der Schaffung der Länder-KVen als Körperschaften des öffentlichen Rechts auf eine föderale Grundlage zu stellen.

Damit wurden auch die Grundlagen für die Prosperität der niedergelassenen Ärzte in den 1960er und 1970er Jahre gelegt: Ins Gesetz kam eine Bestimmung, wonach die Berechnung der Gesamtvergütung der Kassen an die KVen anstelle einer Pauschale je Versicherten auch nach Fallpauschalen oder Einzelleistungen möglich wurde.

Über die Ermächtigung von Klinikärzten zur Teilnahme an der ambulanten Versorgung entschieden die KVen: Damit war das Versorgungsmonopol niedergelassener Ärzte für die ambulante Medizin gesichert - worüber lange mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft gestritten worden war.

Zu einer ersten Machtprobe zwischen Politik und KV-System kam es im Zuge der Blank'schen Reformen 1959/60.

Der damalige Arbeitsminister Theodor Bank plante Zuzahlungen für ambulante ärztliche Behandlung ("Registrierkasse in der Praxis"), ministeriell angeordnete Honorarbeschränkungen und die Errichtung von Eigeninstitutionen der Kassen (Ambulatorien).

Das KV-System und die Ärzte reagierten mit Protest und schlossen Allianzen mit den Gewerkschaften und der SPD. Entscheidend war aber der Draht nach ganz oben: Dreimal trafen sich die KBV-Spitze und Bundeskanzler Konrad Adenauer.

Der Machtpolitiker sah: "Das ist schwierig, gegen 70.000 Ärzte, von denen jeder 30 Patienten am Tag hat, ein Gesetz zu machen." Blank war gescheitert.

Damit war im Wirtschaftswunder- Deutschland der Weg zum Wohlstand für die niedergelassenen Ärzte frei: Zwischen 1959 und 1971 stieg der Durchschnittsumsatz je Praxis um gut 220 Prozent, rund zehn Prozent jedes Jahr.

Bereits 1959 lag das Durchschnittseinkommen der niedergelassenen Ärzte mit 35.288 DM beim 5,5-fachen des Durchschnittsverdieners; 1971 verdiente ein Kassenarzt gut 115.000 DM, sechseinhalb mal so viel wie der Durchschnittsbürger.

Freilich: Als Folge der Kostendämpfungsgesetze wurden die Zuwächse in den 1970er und 80er Jahren moderater.

Doch die Vorlage zu der heute im Prinzip noch immer geltenden Budgetierung lieferte die KBV selbst: Aus Furcht vor staatlicher Intervention wurde 1986 die gedeckelte Gesamtvergütung mit floatendem Punktwert vereinbart - vorübergehend. Schon 1989/90 waren große Leistungsanteile des EBM wieder "ausgedeckelt". Ein Erfolg zäher Verhandlungsführung.

Herausforderung deutsche Einheit

Alle Routine endete nach dem Fall der Mauer und in den ersten Monaten des Jahres 1990, in denen die deutsche Wiedervereinigung vorbereitet wurde: Es war die Stunde der freien Ärzteverbände und der ärztlichen Selbstverwaltung der alten Bundesrepublik, für ihre Kollegen in der untergehenden DDR eine zukunftsfähige Struktur zu schaffen.

Manche Kräfte in der westdeutschen Gesundheitspolitik sahen Chancen, durch die Übernahme von Elementen des DDR-Gesundheitssystems - Ambulatorien und Polikliniken und ihrer durchaus logisch strukturierten interdisziplinären Versorgung - das in der Bundesrepublik gewachsene System der freiberuflichen Ärzte aufzubrechen.

Geschickt und mit Nachdruck nutzte jedoch die damalige KBV-Führung unter Ulrich Oesingmann die Stimmung unter den Ärzten in der DDR, sich von den Zwängen des Staatssystems befreien zu wollen.

Die Polikliniken in kommunaler Hand wurden faktisch zu einer Restgröße mit einem in Paragraf 311 SGB V abgesicherten Bestandsschutz. Ansonsten sah der Einigungsvertrag die Eins-zu-Eins-Übernahme des westdeutschen Gesundheitssystems für die neuen Bundesländer vor.

Eine gigantische Herausforderung für den Know how-Transfer von West nach Ost - immer wieder mal holpernd, aber per Saldo eine Erfolgsgeschichte.

Das Gesundheitswesen der neuen Bundesländer zählt nicht zuletzt aufgrund gewaltiger West-Ost-Transferzahlungen zu den am frühesten und nachhaltig prosperierenden Wirtschaftszweigen - und davon hat die Bevölkerung in Ostdeutschland nachweislich mit besserer Lebensqualität und wachsender Lebenserwartung profitiert.

Die Kehrseite der Medaille: Die Wiedervereinigungs-Euphorie und ein kurzer Wachstumsschub 1990/91 hatten blind gemacht für die enorme Belastung der Sozialversicherungssysteme, insbesondere auch der GKV, die in ein tiefes Defizit taumelte.

Seehofers Budget-Knockout

Nur zwei Jahre nach Inkrafttreten der Gesundheitsreform von 1989 schrieb die GKV ein Defizit von 5,5 Milliarden DM, die Ausgaben stiegen um zwölf Prozent, die Einnahmen nur um zwei Prozent. 1992 drohte ein Defizit von zehn Milliarden DM, im AOK-System explodierten die Beiträge, so in Dortmund auf 16,8 Prozent.

KVen und Ärzte waren dafür mitverantwortlich: Aufgrund exzessiver Arzneiverordnungen und Honorarvertragskonstruktionen, die den Ärzten 1991/92 jeweils zweistellige Zuwächse bescherten.

Im April 1992 feuerte Kanzler Helmut Kohl die glücklose Gesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt (CSU) und bestellte Horst Seehofer zum neuen Ressortchef: ausgestattet mit Prokura für harte Eingriffe in Kooperation mit der oppositionellen SPD.

Mit dem damaligen SPD-Gesundheitsexperten Rudolf Dressler schmiedete Seehofer den historischen Kompromiss von Lahnstein: die Budgetierung der Ausgaben für Kliniken, Arzthonorare und Arzneimittel, kombiniert mit einer Kollektivhaftung der Kassenärzte für Überschreitungen des Arzneibudgets.

Zugleich kassierte das Spargesetz alle ab 1991 mit Wirkung für 1992 geschlossenen Honorarverträge. Das war ein bis dahin nie gekannter Eingriff in die Autonomie der Selbstverwaltung. "Wir stehen vor einem Scherbenhaufen", konstatierte der Ehrenvorsitzende der KBV, Hans Wolf Muschallik.

Trotz aller Reformen nachfolgender Gesundheitsminister wirkt das durch Seehofer gesetzte Trauma bis heute nach: Unter dem Budget entwickelten sich Grabenkämpfe um die Honorarverteilung zwischen Haus- und Fachärzten, zwischen Fachärzten und Psychotherapeuten, unter den KVen.

Die Selbstverwaltung wurde zur Mangelverwaltung. Auch die inzwischen geregelte Honorartrennung bei Haus- und Fachärzten hat nicht zur Befriedung auf der Funktionärsebene geführt. Alle Versuche, aus dem Seehofers Budget-Paradigma herauszufinden, haben sich bislang als frustran erwiesen - auch die unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verordnete Linie einer morbiditätsorientierten Vergütung.

Bis heute ist es der KBV nicht gelungen, mit den Kassen einen Konsens zur Morbiditätsmessung zu finden. Stattdessen wurden die Honorar-Paragrafen 87 und 87a zur komplexesten Rechtsnorm im SGB V aufgebläht.

Ein weiterer Affront gegen die Selbstverwaltung und ihren Sicherstellungsauftrag war die Einführung des Wettbewerbs durch Selektivverträge: die Integrationsversorgung und die hausarztzentrierte Versorgung. Sie eröffnete dem Hausärzteverband die Möglichkeit, mit den Kassen ein zweites Versorgungssystem neben der KV aufzubauen.

Das Verhältnis der beiden Systeme zueinander, die Bereinigung der Vergütungen, die (eigentlich notwendige) Unvereinbarkeit von Personalunionen in KV und Hausärzteverband sind ungeklärt und nicht versiegender Quell für Streit.

Entfremdung und Misstrauen

Auch die vom Gesetzgeber intendierte Professionalisierung durch hauptamtliche KV-Vorstände hat die ärztliche Selbstverwaltung nicht gestärkt - im Gegenteil.

Ganz überwiegend haben bis dato ehrenamtliche Vorstände die ehemals professionellen Hauptgeschäftsführer verdrängt oder degradiert - und damit in Wirklichkeit die Führung des KV-Systems deprofessionalisiert.

Zwar wurde damit die früher übliche Ämterhäufung der KV-Funktionäre weitgehend beschränkt - nicht jedoch die Pfründenwirtschaft. Sinnfälligste Beispiele dafür sind die KV Berlin, deren drei Vorstände sich nach der ersten Amtsperiode und trotz Wiederwahl (sozial-)rechtswidrig hohe Übergangsgelder genehmigen ließen und sich nun vor der Strafjustiz verantworten müssen, und die KBV selbst, deren ehemaliger Vorsitzender Dr. Andreas Köhler mit dem Bundesgesundheitsministerium eine Fehde um die Höhe seines Gehalts ausfocht.

Aktuell beschäftigen die Höhe seiner Ruhestandsbezüge, der Verdacht des Nepotismus und die Umstände des Neubaus der KBV-Zentrale Heerscharen hochkarätiger Juristen und binden die Kräfte des KBV-Vorstands.

So haben sich maßgebliche Teile der Selbstverwaltung in einen Morast gefahren. Mit üblen Auswirkungen: Nie war die Funktionärsschicht den an der Basis arbeitenden Ärzten weiter entfremdet als heute, das Misstrauen wächst. Es dürfte immer schwieriger werden, im Nachwuchs engagierte Berufspolitiker zu gewinnen.

Schon jetzt haben die Ärzte in der Gemeinsamen Selbstverwaltung, im Bundesausschuss und als Verhandlungspartner der Kassen, an Definitionsmacht verloren. Fast mitleidvoll blickt der GKV-Spitzenverband auf die Entwicklungen in der KBV.

Die grundlegende Idee und die große Chance des deutschen Kollektivvertragsmodells - der faire Interessenausgleich zwischen den Partnern Ärzten und Krankenkassen - werden auf diese Weise verspielt.

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