Exklusiv-Interview

"Eine anonyme Fehlermeldung sollte möglich werden"

Ist die Transplantation in Deutschland gut aufgehoben in den Händen der BÄK und der DSO? Müsste nicht der Staat die Dinge in die Hand nehmen? Die "Ärzte Zeitung" sprach mit Professor Hartmut Kliemt.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:

Professor Dr. Hartmut Kliemt

Kliemt ist seit 2006 Professor für Philosophie und Ökonomik an der Frankfurt School of Finance & Management.

In Frankfurt betreut er den Studiengang Management, Philosophy and Economics.

Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Gesundheitsethik und -ökonomik.

Ärzte Zeitung: Herr Professor Kliemt, bei einer Organentnahme im Klinikum Bremerhaven ist einiges schief gegangen. Brauchen wir mehr staatliches Eingreifen, um solche Vorkommnisse zu vermeiden?

Professor Hartmut Kliemt: Was gibt uns die Hoffnung, dass der Staat es besser machen würde? Aber staatliche Kontrolle muss sein.

Ja, eben!

Kliemt: Natürlich braucht man in der Rechtsprechung Monopolgewalt, um endgültige Urteile verbindlich zu fällen. Aber private Institutionen, denen Ziele vorgegeben werden, können flexibel an der Verbesserung von Standards arbeiten und dabei staatlich überwacht werden.

Aber bei der Transplantation werden Grundrechte berührt - und der Staat ist dazu da, diese Grundrechte zu wahren.

Kliemt: Das ist wahr. Das Bundesverfassungsgericht und andere Obergerichte neigen deshalb generell dazu, private Organisationen zu Gunsten von öffentlichen zurückzudrängen. Sie treten tendenziell für die völlige Verrechtlichung von Organentnahmen und Transplantationen ein. Aber das Recht sucht nicht primär das medizinisch Optimale, sondern Ziele der Rechtssicherheit zu verwirklichen. Ähnliches gilt für die Überwachung der Regelbefolgung.

Tut dies denn die Prüfungs- und Überwachungskommission der BÄK? In Bremerhaven hat dies nicht genützt.

Kliemt: Das stimmt wohl. Aber Standardisierungen unterhalb der Ebene der Rechtsregeln sind dennoch grundsätzlich der Qualitätssicherung und vor allem der Qualitätsverbesserung förderlicher als Rechtsregeln. Im Flugverkehr zum Beispiel richtet man sich nach selbst entwickelten Protokollen und Standards. Zudem gibt es dort die Möglichkeit, dass Piloten anonym Fehler melden. Wie wirksam die Kombination von selbst entwickelten Standards und Fehlerbehebungskultur ist, erkennt man daran, wie wenig Unfälle in der Luftfahrt geschehen. Eine solche Fehlerkultur bräuchte es auch in der Transplantationsmedizin.

Wenn ich mir als Bürger ansehe, was in Bremerhaven geschehen ist, sage ich doch zum Thema Organspende: Danke, nein - und fordere Konsequenzen.

Kliemt: Ich kann nachvollziehen, dass man in konkreten Fällen wie in Bremerhaven nach der Hand des Staates ruft. Aber wir sollten nicht beim konkreten Fall stehen bleiben. Wir sollten vor allem ein Interesse an grundsätzlich besseren Standards und besser funktionierenden Regeln haben. Sobald es nur noch um rechtliche Schuldzuweisungen geht, ist es nahezu ausgeschlossen, etwas zu lernen. Eine rechtliche ‘Blaming-Kultur' in der Transplantationsmedizin zu etablieren, ist mit Bezug auf Qualitätsverbesserung kontraproduktiv - eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Juristen.

Es gibt Standards, aber mancher Arzt hat sich nicht an sie gehalten.

Kliemt: Das geht natürlich nicht! Offenbar tun manche Ärzte sich schwer, sich Regeln zu unterwerfen. Sie setzen im Zweifel eher auf ihre Intuition und Therapiefreiheit als auf evidenzbasierte Standards. Bei der Hirntoddiagnostik geht das nicht an. Hier hat man im Falle von Fehlverläufen im Zweifel auf transplantationsfähige Organe zu verzichten. In Bremerhaven hätte man sich vermutlich gleich entscheiden müssen, keine Organe zu entnehmen, weil der Apnoe-Test nicht in Ordnung war.

Und wenn Ärzte sich nicht an die Regeln halten ...

Kliemt: ...dann kann dies in Ausnahmefällen auch einmal sanktionsfrei bleiben, wenn es ausführlich etwa gegenüber der DSO dokumentiert, von dieser nachweislich zur Prozessverbesserung herangezogen und gegenüber staatlichen Kontrollorganen wie dem Bundesgesundheitsministerium offengelegt wird. Der Prozess der Regelanwendung muss besser strukturiert werden. Es könnte zum Beispiel eine Veto-Regel eingeführt werden, wonach jeder an einer Organentnahme Beteiligte den Vorgang unterbrechen darf mit einer Formel wie: Ich habe Bedenken.

Es sollte unbedingt eine Meldestelle für anonyme Fehlermeldungen mit einem rechtlich unter Schweigepflicht und -privileg stehenden Ombudsmann eingeführt werden. Hier könnte der Staat aktiv werden und möglicherweise selbst allgemeine Rahmen-Regeln schaffen. Der Staat und seine Organe bleiben aber ebenso fehleranfällig wie andere menschliche Organisationsformen und sind dabei weniger lernfähig.

Lesen Sie dazu auch: Unstimmigkeiten im OP: Eine Tote, keine Organe und viele Fragen

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