Zivilisationskrankheiten bei den Ärmsten

Indien wird chronisch krank

Chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs oder Herzerkrankungen sind in Indien auf dem Vormarsch. Doch für viele Inder ist die Versorgung unerschwinglich - und oftmals wissen sie nichts über diese Erkrankungen.

Von Martina Merten Veröffentlicht:
Täglich kommen rund 100 Patienten zu Dr. Naresh Trehan (2.v.l.) zum Gespräch über und Behandlung ihrer Krankheit.

Täglich kommen rund 100 Patienten zu Dr. Naresh Trehan (2.v.l.) zum Gespräch über und Behandlung ihrer Krankheit.

© Merten

Die Eingangshalle von Medanta, der Medicity, erinnert eher an eine Hotellobby als an eine der größten Fachkliniken Indiens. Die Patienten sitzen komfortabel auf blank geputzten weißen Bänken.

Eine Etage höher - im Warteraum von Dr. Naresh Trehan - dürfen sich die wohlhabenden seiner Patienten an Kaffee und Businesszeitschriften erfreuen.

Das Sicherheitspersonal, das vor der Tür von Trehans Sprechzimmer steht, lotst im Fünf-Minuten-Takt massenweise Patienten in sein Behandlungszimmer.

Zu dem Gründer und Direktor der Privatklinik und wohl renommiertesten Herzspezialisten Indiens kommen täglich an die 100 Patienten aus dem ganzen Land. Viele von ihnen mussten lange sparen, um sich ein Gespräch mit Trehan leisten zu können.

Der Herzspezialist findet deutliche Worte, wenn es um die rasante Zunahme von chronischen Erkrankungen in Indien geht: "Die Zukunft sieht düster aus." Was er damit meint: Chronische Erkrankungen sind für mehr als jeden zweiten Todesfall in Indien verantwortlich.

Herzerkrankungen machen nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums 24 Prozent der durch nicht-übertragbare Erkrankungen (NCDs) verursachten Todesfälle aus, gefolgt von Krebs (sechs Prozent) und Diabetes (zwei Prozent). 60 Prozent dieser Todesfälle ereignen sich vor dem 70. Lebensjahr.

Sieht die Regierung tatenlos zu?

Die Regierung, glaubt Trehan, wisse nicht, wie sie mit dieser wachsenden Zahl an Patienten umgehen soll. Termine oder die Versorgung in Spezialkliniken wie in seiner kann sich die Mehrheit der Inder nicht leisten.

Noch schlimmer findet der Medanta-Gründer allerdings, dass ein Großteil der Inder keine Vorstellung davon hat, was eine chronische Erkrankung ist oder wie man eine solche behandelt. "Die indische Regierung muss endlich anfangen, die Leute über chronische Erkrankungen aufzuklären", sagt Trehan.

Im Gespräch mit Anshu Prakash, Sekretär im indischen Gesundheitsministerium, macht es den Anschein, als unternehme die Regierung bereits eine ganze Menge im Kampf gegen die NCDs. "Seit vielen Jahren sind wir uns des Problems bewusst", sagt Prakash.

Seit 2010 arbeite die Regierung an einem Nationalen Programm zur Prävention und Kontrolle von Krebs, Diabetes, kardiovaskulären Erkrankungen und Schlaganfällen.

Bereits davor habe es allerhand Pilotprogramme über das Land verteilt gegeben.

Allein die Größe Indiens - das Land ist mit 1,2 Milliarden Einwohnern das zweitgrößte Land der Erde - scheint den Kampf gegen NCDs zu erschweren.

Und noch etwas merkt Prakash nach einer Weile im Gespräch an: "Viele Inder, die wir durch unsere Aufklärungs- und Präventionskampagnen zu erreichen versuchen, verleugneten ihre Erkrankungen."

Unwissenheit über chronische Erkrankungen

Ähnliche Erfahrungen musste auch Professor Anoop Misra machen. Der Diabetologe gründete 2011 eine Einrichtung namens "Fortis C-Doc" in Delhi - ein Ausbildungs-, Trainings- und Behandlungszentrum rund um metabolische Erkrankungen.

In den Jahren zuvor war dem Direktor der Nationalen Diabetes-Stiftung Indiens immer wieder aufgefallen, dass viele Fachrichtungen nicht unter einem Dach vereint waren, Patienten lange Wege hatten und Ärzte nicht ausreichend über Diabetes als Krankheit informiert waren.

Gleichzeitig beobachtete Misra wie seine Kollegen Prakash und Trehan die Unwissenheit vieler Inder im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen.

Inzwischen kommen an die 100 Patienten täglich in die Einrichtung, 80 Prozent darunter Diabetiker. Allerdings, gesteht Misra ein, sei eine Behandlung in Fortis C-Doc nur einer kleinen Minderheit - nämlich den wohlhabenden Indern - möglich.

Zu seiner Verteidigung fügt er gleich hinzu, dass die Preise hier noch immer weitaus niedriger lägen als im Westen. "Und gute Behandlung ist eben teurer."

Mehr Stress nach Umzug in die Stadt

In Indien lebten 2005 455 Millionen Menschen von weniger als 1,25 US Dollar am Tag. In 2015 werden es trotz der rasant wachsenden Mittelschicht und des seit Jahren stetigen Wirtschaftswachstums des Landes immerhin noch 313 Millionen Inder sein.

Der Prozentsatz der aus finanziellen Gründen unbehandelten Erkrankungen liegt der Weltgesundheitsorganisation zufolge bei 28 Prozent auf dem Land und 20 Prozent in der Stadt.

Würden sich bestimmte chronische Erkrankungen nur unter mittelständischen oder reichen Indern ausbreiten, wäre dies vielleicht kein Problem. "Aber die chronischen Krankheiten erreichen inzwischen auch die Armen", weiß Dr. Usha Shrivastata, Leiterin der Nationalen Diabetes, Übergewicht und Cholesterol Stiftung Indiens.

Die Gründe dafür: Immer mehr Inder wandern vom Land in die Städte, sie sind dort erhöhtem Stress ausgesetzt, die Lebenshaltungskosten sind höher und daher wohnen sie in Slum-Gegenden.

Gleichzeitig sei ein Großteil der Nahrung, die sie sich in den Städten leisten können, schlechte Nahrung - fetthaltig, salzhaltig, falsche Kohlenhydrate, ergänzt Dr. Rajan Sankar, Manager der Nicht-Regierungsorganisation Global Alliance for Improved Nutrition (GAIN).

"Viele Inder sind so sehr mit den Herausforderungen des Alltags beschäftigt, dass das Thema gesunde Nahrung häufig untergeht", sagt Sankar.

Erkennbarer Anstieg in Safdarganj

Die Organisation GAIN versucht deshalb seit 2002, in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern vor Ort, Menschen über gesunde Nahrung aufzuklären.

Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem Frauen mit jungen Kindern. Denn, sagt Sankar, es seien letztlich die Frauen, die zu Hause das Essen kochen und nach den Kindern schauen, nicht die Männer.

In Safdarganj, nach indischen Verhältnissen mit 30.000 Einwohnern eine Kleinstadt in Uttar Pradesh, beobachtet Dr. Derendra Verma in der Tat eine Zunahme chronischer Erkrankungen.

Die kleine, unscheinbare Privatklinik des Arztes liegt am rechten Straßenrand der ungeteerten, dreckigen Hauptstraße des Ortes, 40-50 Patienten suchen ihn täglich auf.

"Viele meiner Patienten leiden unter Bluthochdruck, Diabetes oder auch unter Depressionen", sagt Verma. Vergleicht er die Häufigkeit mit der von vor zehn Jahren, sei ein Anstieg erkennbar, hat er beobachtet.

Genaueres kann Verma nicht sagen. Er hat aufgrund der vielen Patienten, die täglich seine kleine Krankenstation aufsuchen und in Not sind, kaum Zeit, sich mit Dokumentation von Patientendaten und deren Krankheitsverläufen zu kümmern, erzählt er.

Geld für die Gesundheit reißt großes Loch in Familienkasse

Fragende Blicke: Menschen vor der Gesundheitsstation in Museypur.

Fragende Blicke: Menschen vor der Gesundheitsstation in Museypur.

© Merten

Noch vager werden die Angaben im einigen Kilometer von Safdarganj entfernten Dorf Museypur. Am Ortseingang des Dorfes befindet sich eine kleine Krankenstation. Zu ihr gehören einige wenige Holzbetten mit Bastmatten.

Worunter die Patienten in Museypur leiden, kann Dr. Pankay Kumar nicht so genau sagen. Der Arzt kommt nur ab und an vorbei, um sich um die Dorfbewohner zu kümmern. Alles andere lohnt sich für ihn finanziell nicht.

Auf nicht-übertragbare Erkrankungen angesprochen schüttelt Kumar nur den Kopf. "Diabetes kommt glaube ich nicht so häufig vor, aber wir haben auch keine Möglichkeit, dies zu prüfen." Es mangelt an Geld für ein Labor.

Die Menschen, die in Museypur leben und meist auch sterben, gehören zu der Schicht in Indien, die nicht mehr als einen US-Dollar am Tag zur Verfügung haben. Jede Ausgabe für Gesundheit reißt ein großes Loch in die Familienkasse.

Kommt es in Museypur zu einem Notfall, erzählt Kumar, kann es unter Umständen Tage dauern, bis endlich eine Transportmöglichkeit zum nächst größeren Krankenhaus gegeben ist.

Und selbst diese größeren Kreiskrankenhäuser sind meist nur dürftig ausgestattet und Tausende von Patienten aus umliegenden Dörfern strömen täglich dorthin.

Überall fehlen Ärzte

Denn in all diesen Dörfern - so heißt es im Jahresbericht des Landesbüros der WHO in Delhi - sind die Probleme in kleinen Gesundheitsstationen wie der in Museypur dieselben: Es mangelt an sauberem Trinkwasser, in vielen Stationen gibt es stundenweise nicht einmal Strom, geschweige denn einen Computer.

Selbst in größeren Krankenhäusern stehen im Durchschnitt nur 0,6 Betten auf 1000 Einwohner zur Verfügung - in Deutschland sind es acht Betten. Auch fehlen überall Ärzte, insbesondere in ländlichen Gegenden.

Auf dem Land stehen 1000 Einwohnern statistisch betrachtet nur 0,39 Ärzte zur Verfügung, in der Stadt sind es 1,3 Ärzte. Deutschland verfügt statistisch betrachtet über mehr als dreimal so viele Ärzte auf 1000 Einwohner.

Die jungen und alten Dorfbewohner, die vor der Gesundheitsstation in Museypur stehen und zusehen, wie Arzt Dr. Pankay Kumar Fragen beantwortet, schauen den Arzt mit fragenden Blicken an.

Was er antwortet und worüber er spricht, verstehen sie nicht. Ebenso wenig wie sie verstehen würden, dass es in Delhi, am Stadtrand, eine Klinik gibt, deren Eingangsbereich dem eines Fünf-Sterne Hotels gleicht und Kaffee und Zeitschriften gereicht werden.

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