Obamacare

Das Problem der Amerikaner mit der Staatsmedizin

Obamacare bedeutet Staatsmedizin, glauben viele US-Amerikaner, und die ist seit jeher verschrien. Dabei ist der Einfluss des Staates auf das Gesundheitswesen schon seit Jahrzehnten größer als vielen bewusst ist.

Von Martina Merten Veröffentlicht:
Demonstration im Oktober 2013 in Washington für Obamacare und gegen Kongressabgeordnete, die weitere Kreditaufnahmen verhindern wollten.

Demonstration im Oktober 2013 in Washington für Obamacare und gegen Kongressabgeordnete, die weitere Kreditaufnahmen verhindern wollten.

© AP Photo/dpa

WASHINGTON. Eigentlich hätten die US-Amerikaner jubeln müssen: über acht Millionen bislang Nicht-Versicherter haben sich bis Ende März für den Abschluss einer neuen, staatlich subventionierten Krankenversicherung entschieden.

Bis zur Verabschiedung des Affordable Care Acts (ACA) im Jahr 2010 waren dem Budgetbüro des US-Kongresses zufolge 16 Prozent der Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben ohne Versicherung, die Hälfte davon sogar länger als ein Jahr.

Gleichzeitig hat sich im Zuge der Reform die Zahl derjenigen erhöht, die Medicaid beziehen - die staatliche Krankenversicherung für Bedürftige. Und auch die Ausgaben für Gesundheit - derzeit mit mehr als 8000 US-Dollar pro Kopf weltweit führend - sind nicht weiter gestiegen, heißt es von US-Medien.

Doch der Jubel, den insbesondere Europäer erwarteten, er blieb aus. Dem Meinungsforschungsinstitut Gallup zufolge waren diesen Sommer noch immer rund die Hälfte der US-Amerikaner der Meinung, Obamacare verschlechtere die Situation nur weiter.

Unter den Republikanern befürworten lediglich acht Prozent die Gesundheitsreform. Warum?

Dem Staat wird generell misstraut

Für Michael Cannon, Leiter für gesundheitspolitische Studien am libertären Cato Institut in Washington, ist die Antwort auf diese Frage einfach: "Die Menschen misstrauen der Regierung. Kein Staat sollte das Recht haben, Entscheidungen über den Kopf des Einzelnen hinweg zu fällen", findet Cannon.

Doch der "Sozialismus" im Gesundheitswesen hat Cannon zufolge nicht erst mit Obamacare begonnen. Die Pflicht, sich versichern zu müssen und das Festlegen des Leistungskatalogs der neuen Versicherungen durch den Staat im Zuge von Obamacare sei nur die Spitze der Staatsmedizin, erregt Cannon sich.

Bereits seit der Einführung von Medicare und Medicaid Mitte der 60er Jahre - den beiden staatlichen Krankenversicherungsprogrammen für über 65-Jährige und für Bedürftige - seien US-Amerikaner in ihren Entscheidungen im Gesundheitswesen nicht mehr frei, zeigt sich Cannon überzeugt.

Was Cannon und einige andere wirtschaftsliberale Think Tanks in den USA propagieren, ist nach Ansicht von Uwe E. Reinhardt "gezielte Desinformation der Bevölkerung".

"Die meisten Amerikaner wissen nicht einmal, was Staatsmedizin überhaupt ist", sagt der Professor für Gesundheitsökonomie an der Princeton Universität.

Innere Abwehrhaltung

Dem gebürtigen Osnabrücker zufolge werden sie bewusst fehlinformiert und mit falschen Bildern von Ostblockmedizin abgeschreckt. Tatsächlich ist nur die Hälfte der US-Bevölkerung über den Arbeitgeber privat versichert. Verliert der Arbeitnehmer den Job, geht auch sein Versicherungsschutz verloren.

"Eigentlich haben wir das größte verstaatlichte Gesundheitssystem der Welt", fasst es Susan Dentzer, ehemalige Chefredakteurin der Zeitschrift "Health Affairs" und heute Senior-Politikberaterin bei der Robert Wood Stiftung, zusammen.

Dennoch kann man nach Ansicht von Dr. Taylor Burke noch freie Entscheidungen treffen, auch bei den neuen Versicherungen seit Obamacare, sagt der Jurist und ACA-Experte, der in der Abteilung für Public Health der George Washington Universität lehrt. "Schließlich gibt es noch immer privat tätige Ärzte und private Versicherungen, die der Staat lediglich subventioniert".

Die innere Abwehrhaltung gegenüber staatlichen Eingriffen ist nach Auffassung des Soziologen Paul Starr kein neues Phänomen. Starr, der wie Reinhardt in Princeton lehrt, beschäftigte sich bereits vor rund 30 Jahren in seinem Buch "The Social Transformation of American Medicine" mit dem Begriff der Staatsmedizin.

Für das Buch erhielt er 1984 den Pulitzer Preis. "Die Angst vor staatlichem Einfluss zeigt den philosophischen Grundkonflikt der Amerikaner: Ich habe meine Versicherung alleine verdient, also gehört sie nur mir. Oder: Jeder zahlt für die Versicherung eines jeden."

Widerstand auch gegen Medicare

Als die Regierung in den 60er Jahren Medicare und Medicaid einführte, sei ein Großteil der Bevölkerung auch zunächst dagegen gewesen, erinnert sich Starr.

Heute sind beide Programme Umfragen zufolge sehr beliebt. "Ich gehe davon aus, dass es bei Obamacare ähnlich sein wird", sagt auch Dr. Steven Sheingold, langjähriger Mitarbeiter im US-Gesundheitsministerium.

Das Misstrauen der US-Amerikaner gegenüber dem Staat sehen Sheingold und Reinhardt historisch begründet: "Bei der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1776 wollten die Amerikaner unabhängig und frei von Großbritannien sein", erinnert Sheingold. "Sie haben nur auf sich selbst, ihren Nachbarn und ihre Waffe vertraut", ergänzt Reinhardt. Diesen Freiheitsdrang, gepaart mit der Überzeugung, Dinge alleine zu schaffen, finde man noch immer - auch in Fragen der Gesundheitsversorgung.

Schlagworte:
Mehr zum Thema

Vor dem World Health Assembly

WHO-Pandemieabkommen noch lange nicht konsensfähig

Leicht geringere Sterblichkeitsrate

Sind Frauen besser bei Ärztinnen aufgehoben?

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

NHANES-Analyse

Bei Hörminderung: Hörgeräteträger leben länger

Hauptstadtdiabetologinnen

Ein Netzwerk für Diabetologinnen

Lesetipps
Neue Hoffnung für Patienten mit Glioblastom: In zwei Pilotstudien mit zwei unterschiedlichen CAR-T-Zelltherapien blieb die Erkrankung bei einigen Patienten über mehrere Monate hinweg stabil. (Symbolbild)

© Richman Photo / stock.adobe.com

Stabile Erkrankung über sechs Monate

Erste Erfolge mit CAR-T-Zelltherapien gegen Glioblastom

Die Empfehlungen zur Erstlinientherapie eines Pankreaskarzinoms wurden um den Wirkstoff NALIRIFOX erweitert.

© Jo Panuwat D / stock.adobe.com

Umstellung auf Living Guideline

S3-Leitlinie zu Pankreaskrebs aktualisiert