Chemieunfall in China

Das Vertrauen ist futsch

Mindestens 114 Menschen sind nach einem Chemieunfall im chinesischen Tianjin gestorben, rund 700 sind noch in Behandlung. Für die Regierung in Peking wird der Umgang mit der Katastrophe ein Prüfstein - denn die Anwohner fordern Informationen.

Von Jana Kötter Veröffentlicht:
Mit Transparenten fordern die Anwohner des Hafens in Tianjin mehr Informationen zum Chemieunfall.

Mit Transparenten fordern die Anwohner des Hafens in Tianjin mehr Informationen zum Chemieunfall.

© Kyodo/MAXPPP

TIANJIN. Die Katastrophe von Tianjin enthüllt nicht nur Sicherheitsmängel - sie zeigt auch die Folgen einer mangelnden Informationspolitik. Nach der verheerenden Explosion im Gefahrgutlager des Hafens der nordchinesischen Stadt haben die Anwohner Angst, in ihre Häuser zurückzukehren, die Angehörigen der mindestens 114 Opfer fordern Aufklärung. Denn diese hat ihnen die chinesische Regierung bislang vorenthalten.

Lediglich die Tatsache, dass an der Unglücksstelle hochgiftiges Natriumcyanid ausgetreten ist, hat das Militär bisher eingeräumt. Die Hintergründe für den Chemieunfall sind bisher jedoch unklar - ebenso wie die Aussagen der Regierung.

Die Staatsmedien beruhigten nach der ersten Explosion am vergangenen Mittwoch, für die Anwohner gehe keine Gefahr von austretenden Chemikalien aus; der Chefingenieur des Umweltamtes von Tianjin, Bao Jingling, riet jedoch, sich so weit wie möglich von der Unglücksstelle aufzuhalten.

Einigen Medienberichten zufolge war kein Cyanid in das Grundwasser gelangt; die staatliche Agentur Xinhua wiederum schrieb, dass an 3 von 27 Messstationen im Wasser Cyanid-Werte gemessen wurden, die das 24-Fache des erlaubten Wertes überschritten.

Von Beginn an betrieb China - wie es auch nach zahlreichen Minenunglücken in der jüngeren Vergangenheit der Fall war - eine reine Symbolpolitik: Präsident Xi Jinping forderte angesichts der Katastrophe blitzschnell Reformen. Die Katastrophe in Tianjin und eine jüngste Serie schwerer Unglücke enthüllte "ernste Probleme beim Arbeitsschutz".

Die Behörden ordneten für die ganze Stadt eine Überprüfung von Sicherheits- und Feuerschutzvorschriften an. Und Ministerpräsident Li Keqiang besuchte sofort die Unglücksstelle - in weißem Hemd und ohne Gasmaske, obwohl er sich nur rund einen Kilometer von der Explosionsstelle aufhielt.

Alle Entscheidungen werden in Peking getroffen

Dass sich die höchsten Politiker des Landes blitzschnell der Katastrophe annehmen, ist Sinnbild des wohl größten Problems des Landes: der Zentralisierung. Die Regierung in Peking erlässt regelmäßig Bestimmungen und Gesetze - auch zum Arbeitsschutz und zur Aufklärung im Katastrophenfall.

Vor Ort werden diese aufgrund mangelnder Kontrollen jedoch nicht immer umgesetzt. Und vor allem: An der Basis fehlt es zudem häufig an Kompetenz.

Dass auch bei den Feuerwehrkräften in Tianjins Hafen Unwissenheit herrschte, belegt ein Bericht eines überlebenden Feuerwehrmannes: "Wir sprühten Wasser auf einen Container und nach zehn Minuten hörten wir Geräusche und dann ging der Container in Flammen auf", berichtete er der Zeitung "Nanfang Zhoumo".

Der Artikel wurde später von der Zensur gelöscht. Niemand habe sie aufgeklärt, dass in der Halle gefährliche Chemikalien lagerten, die bei Kontakt mit Wasser reagieren würden. Eine eindeutige Kennzeichnung der Gefahrengüter, wie sie in Europa Pflicht ist, war nicht vorhanden.

Der Umgang mit dem Chemieunfall zeigt bedeutende Unterschiede zwischen der autoritären Struktur Chinas und einem Vorgehen im Katastrophenfall in Deutschland: In China werden Entscheidungen in Peking getroffen. So sind etwa die Feuerwehrkräfte, die in Tianjin im Einsatz sind, direkt dem Militär und damit der Regierung unterstellt.

Hohe Politiker sind vor Ort. Und die Regierung hat nach Bekanntwerden der Katastrophe sofort angeordnet, dass Informationen allein über die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua verbreitet werden dürfen.

"Lokale Kräfte kennen die Gefahren am besten"

In Deutschland hingegen ist Katastrophenschutz Ländersache. "Die lokalen Einsatzkräfte kennen die Gefahren vor Ort am besten", erklärt Dr. Roman Trebbe im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Er hat die Analytische Task Force (ATF) des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe mitentwickelt, die bei Katastrophen im Bedarfsfall - und lediglich auf explizite Anforderung der lokalen Einsatzleiter - unterstützend zur Seite steht.

So habe Hamburg etwa spezielle Expertise zu möglichen Vorfällen im Hafen, eine Region wie Köln etwa zu industriellen Unfällen. "Die Verantwortung liegt letztlich aber stets bei den lokalen Feuerwehren", betont Trebbe. "Nur wenn der Einsatzleiter vor Ort die Lage so einschätzt, dass Hilfe benötigt wird, können wir unterstützen."

Im Jahr stehe die ATF in 160 bis 180 Einsätzen, darunter auch lediglich telefonische Beratungen in "eher unspektakulären Fällen" zur Seite.

Die Zentralregierung in Peking hingegen verfolgt vielmehr eine Symbolpolitik im Alleingang. Sie soll - wenn auch nur im Nachhinein - schnelles Handeln zeigen: Dazu gehört auch, dass der chinesische Minister für Arbeitsschutz, Yang Dongliang, am Dienstag von seinen Pflichten entbunden worden ist. Bis Mai 2012 war er Vizebürgermeister von Tianjin.

Das Vertrauen der Bevölkerung kann diese Symbolpolitik jedoch nicht wiederherstellen. Im Gegenteil: Vielmehr wurde am Dienstag auch der Verdacht von Vetternwirtschaft geäußert. Keine Frage: Der Vertrauensverlust ist enorm.

Doch autoritäre Regime können Informationen nur zu einem gewissen Maß behindern. Gerade in China ist die Öffnung in Richtung Westen weit fortgeschritten: Schon lange dominiert der Kapitalismus - und damit westliche Konzepte und Marken - das kommunistisch regierte Land, junge Chinesen studieren im Ausland, und die staatlichen Zensoren kommen nicht gegen jedes Internet-Phänomen an.

Der Unmut wächst

Die chinesische Bevölkerung bekommt zunehmend mit, wie Informationspolitik in westlichen Staaten funktioniert.In den "ersten Dutzenden Stunden" nach den Explosionen hätten die Behörden nur "sehr ungenügende Informationen" geliefert, kritisierte nun sogar die Tageszeitung Global Times, die eigentlich eng mit der Kommunistischen Partei verbunden ist.

Eine zu langsame Reaktion nähre die "verrücktesten Gerüchte" und schwäche dadurch das "allgemeine Vertrauen in die Behörden". Das lässt den Unmut weiter wachsen. Wenn Chinas Regierung keine soziale Unruhe riskieren will, wird sie Betroffene und Angehörige mit Informationen versorgen - und dabei auch die Frage der Verantwortung beantworten müssen.

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