Großbritannien

"Drei-Eltern-Kind" wird bald Realität

In Großbritannien können Kliniken jetzt Anträge für eine Behandlung von Frauen mit Mitochondriopathien mithilfe des Mitochondrien-Ersatzes stellen. Damit ist in dem Land erstmals weltweit der Weg frei für Kinder mit drei genetischen Eltern.

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Das Mitochondrien-Ersatz-Verfahren führt dazu, dass Kinder Erbgut dreier verschiedener Menschen in sich tragen können.

Das Mitochondrien-Ersatz-Verfahren führt dazu, dass Kinder Erbgut dreier verschiedener Menschen in sich tragen können.

© LuminaStock / iStock / thinkstockphotos.com

Ein Leitartikel von Peter Leiner

Vererbbare Mitochondriopathien, die auch bei Erwachsenen auftreten, können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und nahezu jedes Organsystem betreffen, vor allem aber Zellen, die einen hohen Energiebedarf haben wie Muskel- und Nervenzellen.

Eine kausale Therapie gibt es nicht. Umso verständlicher ist der Wunsch betroffener Frauen, ihre Erkrankung nicht zu vererben.

Der Mitochondrien-Ersatz, der jetzt in Großbritannien - weltweit einmalig - gesetzlich möglich geworden ist, ist ein umstrittenes Verfahren, bei dem die mütterliche und väterliche Zellkern-DNA nach einer künstlichen Befruchtung - im Vorkernstadium oder später in Form des Spindelapparates - in die zuvor befruchtete entkernte Eizelle einer gesunden Spenderin übertragen wird.

Letztlich eine Methode wie bei der "Erzeugung" des Klonschafs Dolly. Ziel dieser Strategie, für die etwa 150 Frauen pro Jahr geeignet sein sollen, ist, dass das sich entwickelnde Kind ausschließlich die intakte Mitochondrien-DNA der Spenderin erhält.

Allerdings wird diese Spender-DNA über die Eizellen an alle weiblichen Nachkommen weitergegeben.

Kliniken können Anträge für das Verfahren stellen

Im Februar 2015 hatte das britische Unterhaus nach einer hitzigen Debatte für diese Methode gestimmt und somit den Weg für die Legalisierung bereitet (wir berichteten).

Ende Oktober gab nun die zuständige Behörde HFEA (Human Fertilisation and Embryology AUTHORity) bekannt, dass sie ein Protokoll erarbeitet habe, anhand dessen Kliniken jetzt nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung Anträge für die Lizenz zur Anwendung dieser Therapiestrategie in ihren Einrichtungen stellen können.

Erhalten sie die Lizenz, müssen sie zusätzlich für jede Patientin, für die eine Mitochondrien-Spende vorgesehen ist, einen Antrag stellen. Bei jeder - am besten jungen - Eizell-Spenderin muss zuvor sichergestellt sein, dass die Mitochondrien keine pathogenetisch bedeutsamen Mutationen haben.

Je älter die Frauen sind, umso mehr Mutationen haben sich in der Mitochondrien-DNA angesammelt. Schließlich dürfen die übertragenen Erbmoleküle des Zellkerns und der Mitochondrien auf keinen Fall manipuliert werden.

Doch auch wenn jede britische Klinik, die einen Antrag für eine In-vitro-Fertilisation und einen Mitochondrien-Ersatz stellt, sicherstellen muss, dass sie über das Know-how und entsprechend ausgebildetes Personal verfügt, bleibt es dabei, dass es mit dieser Methode der künstlichen Fortpflanzung überhaupt keine Erfahrung gibt, schon gar keine Langzeitdaten.

Wie vor der folgenreichen Debatte im britischen Unterhaus existieren bisher mit der Technik nur Erkenntnisse aus Tierversuchen, etwa mit Makaken (Nature 2009; 461: 367). Auch in den USA wird intensiv über diese Methode und deren Anwendung bei Patientinnen mit Kinderwunsch diskutiert.

Allein in diesem Jahr wird das Institute of Medicine der US-National Academy of Sciences bis Dezember im Auftrag der FDA fünf teils öffentliche Veranstaltungen zu ethischen und sozialpolitischen Fragen des Mitochondrien-Ersatzes ausgerichtet haben. Ausgang offen.

Schon lange forschen Wissenschaftler erfolgreich über die Wechselwirkung zwischen der DNA der Mitochondrien und des Zellkerns. Sowohl unter anderem in Mäusen als auch in Fibroblasten von Menschen ist sie nachgewiesen und spielt sich etwa auf der Ebene der Energieversorgung, des Zellwachstums oder des programmierten Zelltodes ab.

Wie können die britischen Fortpflanzungsmediziner also sicher sein, dass die Mitochondrien der Eizellen einer gesunden, vor allem nicht an einer Mitochondriopathie erkrankten Spenderin nicht doch DNA-Moleküle enthalten, die zu einem gestörten Zwiegespräch zwischen den beiden Erbgutformen führen?

Institut empfiehlt Überwachung bis zur Pubertät

Um entsprechende Störungen auszuschließen, müssten sie eigentlich das Mitochondrien-Erbgut mithilfe einer Komplettsequenzierung überprüfen.

Ein großer Aufwand. Inzwischen sind mehr als 700 Mutationen bekannt, von denen einige im Zusammenhang mit Myopathien, neurodegenerativen Erkrankungen, Diabetes und Infertilität stehen.

Unter anderem deutsche Forscher weisen schließlich darauf hin, dass bei der Auswahl von Mitochondrien-Spenderinnen darauf geachtet werden muss, dass die DNA-Sequenzen der Organellen der Empfängerin zur gleichen Abstammungslinie (Haplotypgruppe) gehören, um spätere Komplikationen zu vermeiden.

Frauen, die das wollen, können in Großbritannien nach einem Mitochondrien-Ersatz die Entwicklung ihres Nachwuchses medizinisch bis zum Ende der Pubertät überwachen lassen. Schwingt bei dieser Empfehlung der HFEA nicht doch eine gewisse Unsicherheit mit, dass die Entwicklung vielleicht nicht so glatt verläuft wie erhofft?

Auch wenn die Befürworter des Verfahrens, das hoffentlich keine weiteren Nachahmer findet, zuversichtlich sind, dass die Manipulation die normale Entwicklung der Kinder nicht beeinflusst, kann niemand das Gegenteil ausschließen.

Das muss Frauen, die diese Strategie nutzen wollen, zuvor klargemacht werden. Wer nur einen positiven Ausgang des Experiments hervorhebt, handelt unverantwortlich.

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