Ärzte ohne Grenzen

63 Kliniken bombardiert, 23 Ärzte getötet

Ärzte ohne Grenzen erlebt schwere Zeiten. In den Kriegsgebieten werden Helfer gezielt angegriffen, in der Flüchtlingshilfe politisch kompromittiert.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

BERLIN. Vertreter der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" (ÄoG) erheben schwere Vorwürfe gegen die Europäische Union, die Bundesregierung und namentlich gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Mit dem von ihr maßgeblich ausgehandelten EU-Türkei-Abkommen ist die Kanzlerin zur Vorreiterin der verheerenden Aussperrung von Schutzsuchenden aus Europa geworden", sagte ÄoG-Geschäftsführer Florian Westphal am Donnerstag in Berlin.

Bundesregierung und Europäische Kommission betrieben politischen Missbrauch der Hilfe auf Kosten der Menschen in Not. Konkret prangern die Ärzte das Abkommen zwischen der EU und der Türkei an. Die EU verspreche der Türkei drei Milliarden Euro zur Versorgung von Flüchtlingen und kaufe sich damit gleichzeitig Hilfe bei der Abschottung der EU-Außengrenzen ein. Das "Massensterben" von Flüchtlingen im Mittelmeer sei eine unmittelbare Folge dieser Politik. In diesem Jahr sollen bereits rund 3000 Menschen auf der Flucht ertrunken sein.

Verstoß gegen Koalitionsvertrag

Damit verstießen die Beteiligten nicht zuletzt auch gegen den Koalitionsvertrag. Darin hatten sich Union und SPD auf die Umsetzung des "Europäischen Konsens über die humanitäre Hilfe" verständigt. Westphal verwies zudem auf die Regelungen des Auswärtigen Amtes zur humanitären Hilfe. Darin heißt es, dass "einziges Kriterium bei der Abwägung von Prioritäten der Hilfeleistungen die Not der Menschen" sei.

Ärzte ohne Grenzen hat in der Folge des EU-Türkei-Abkommens und weiterer schwerwiegender Missachtungen humanitärer Grundsätze die finanzielle Zusammenarbeit mit den Staaten der EU ausgesetzt. Die Organisation sei darauf angewiesen, als völlig neutral angesehen zu werden, begründete der Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion, Dr. Volker Westerbarkey diesen Schritt.

Es werde darüber diskutiert, überhaupt keine Finanzierungsverträge mehr mit der EU und ihren Mitgliedsstaaten einzugehen. Die Vertreter der Hilfsorganisation betonten bei der Vorstellung ihres Jahresberichts gleichwohl, dass Deutschland mit der Aufnahme von einer Million Schutzsuchender einen großen Beitrag geleistet habe, eine noch viel größere humanitäre Krise zu verhindern.

Jetzt sei allerdings geboten, legale Fluchtkorridore zu schaffen, die Familienzusammenführung anzugehen und die Seenotrettung zu verstärken, forderten die ÄoG-Vertreter.

Die Flüchtlingshilfe ist nur einer der Brennpunkte der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen. In den Kriegsgebieten selbst beteiligt sich die Organisation daran, die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten. Von Erfolgen konnte Volker Westerbarkey nicht berichten. Die Ärzte könnten ihre Arbeit nicht tun, weil immer öfter medizinische Einrichtungen angegriffen wurde. Krankenhäuser würden bombardiert, deren Mitarbeiter ebenso wie humanitäre Helfer bedroht, entführt, ermordet würden, so Westerbarkey.

Kliniken komplett zerstört

Das Ausmaß der Gewalt mache Einsätze in Syrien "fast unmöglich". 2015 seien 63 von ÄoG betriebene Einrichtungen bombardiert und beschossen worden. Wichtige Krankenhäuser wie in Idlib und in Aleppo seien komplett zerstört. 16 von ÄoG unterstützte Notarztwagen seien im Einsatz getroffen worden, 23 Ärzte seien getötet, 58 verwundet worden.

ÄoG wirbt um Unterstützung durch Ärzte. Es gebe viele Bewerber, aber immer seltener für langfristige Einsätze. Chirurgen, Gynäkologen und Anästhesisten könnten aber auch in Kurzeinsätzen von vier bis sechs Wochen viel bewirken. Zudem nehme die Komplexität der Arbeit im Feld zu, sagte Florian Westphal. Auch Vertreter von Spezialfächern würden gebraucht. Gearbeitet werde immer im Team mit Einheimischen.

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