Interview mit 9/11-Arzt

Die Anatomie eines Desasters

Der New Yorker Arzt Professor Benjamin Luft und sein Klinikteam erwarteten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 viele Verletzte - doch die kamen zum Teil erst Jahre später. In der "Ärzte Zeitung" kritisiert er den Umgang mit den Helfern.

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Professor Benjamin Luft

Die Anatomie eines Desasters

© Jeanne Neville

Praktizierender Arzt und Medizinprofessor an der State University New York Stony Brook. International ist er vor allem für seine Forschungsarbeit im Bereich der Infektionskrankheiten AIDS und Lyme-Borreliose bekannt geworden.

Die Geschehnisse des 11. September 2001 haben tiefe Spuren bei Luft hinterlassen. Er gründete das Long Island World Trade Center Medical Monitoring and Treatment Program, wo seitdem 8500 Helfer medizinisch versorgt worden sind.

Später begann er, die Erfahrungen seiner Patienten aufzuzeichnen und zu veröffentlichen.

Das Interview führte Claudia Pieper

Ärzte Zeitung: Herr Professor Luft, wie haben Sie den 11. September 2001 persönlich erlebt?

Professor Benjamin J. Luft: Ich war damals Leiter der medizinischen Abteilung an der Universität. Wie viele andere Kliniken in der Stadt warteten wir an dem Morgen des 11. Septembers darauf, die Überlebenden des Attentats in Empfang zu nehmen und zu behandeln.

Es kam aber an dem Tag kein einziger Patient zu uns. Nach und nach erfuhren wir, dass die meisten entweder entkommen waren oder aber im Zusammensturz der Türme den Tod gefunden hatten. Daher gab es nur relativ wenige Verletzte.

Einige Tage später ging ich selbst zum "Ground Zero", und was ich dort sah, machte mir klar, dass wir bald eine ganze Menge von Patienten erwarten konnten: Die Arbeiter und Helfer auf dem Schutthaufen waren nämlich offensichtlich physisch und psychisch so hohen Belastungen ausgesetzt, dass sie medizinische Hilfe benötigen würden. Also haben wir auf Long Island eine Klinik für sie eingerichtet.

Vielen Leuten ist nicht klar, dass 25 bis 30 Prozent der am 11. September ums Leben Gekommenen sowie 25 bis 30 Prozent der "Ground Zero"-Einsatzkräfte von Long Island kamen. Wir wollten sie umsonst behandeln – besonders diejenigen, die es sich sonst nicht leisten konnten.

Glücklicherweise hatten wir bereits vor dem Attentat einen integrativen Behandlungsansatz mit Betonung auf präventiver Medizin. Das half uns dabei, die Verletzungen der Helfer ganzheitlich zu betrachten und zu behandeln.

Welche Krankheitsbilder der Helfer und Arbeiter am "Ground Zero" waren besonders auffällig?

Luft: Ganz offensichtlich war erst einmal die körperliche Verletzung: Durch das immense Staubaufkommen kam es bei den Helfern zu Infektionen der oberen und unteren Luftwege sowie der Nebenhöhlen. Da die Helfer den Staub schluckten, schlug sich das außerdem auf ihren Magen-Darm-Trakt nieder.

Die psychische Verletzung war ebenfalls enorm. Diese Menschen waren so viel Zerstörung und Verlust ausgesetzt; viele hatten Kollegen und Freunde verloren, insbesondere bei der Feuerwehr.

Und die Gefahr war längst nicht aus dem Weg geräumt: Überall brannte es noch, und bei den Bergungs- und Räumungsarbeiten herrschte dauernd Einsturzgefahr. Dass all das zu psychischen Verletzungen führen würde, war aus medizinischer Sicht offensichtlich.

Was wir allerdings erst später herausfanden, war der enorme Einfluss der psychischen Verletzung, der Posttraumatischen Belastungsstörung ((PTSD), auf die physische Gesundheit. Wie sehr die traumatische und die körperliche Verletzung miteinander verknüpft sind, war eine ganz wichtige Entdeckung.

Eine weitere war der chronische Charakter dieser Verletzungen. Das hat mich, ehrlich gesagt, überrascht. Ich dachte am Anfang, dass wir vielleicht noch ein bis zwei Jahre lang Krankheitssymptome sehen würden, nachdem der Patient nicht mehr den Schad- und Giftstoffen ausgesetzt war. Ich habe nicht damit gerechnet, wie langfristig die Verletzungen sein würden.

Mittlerweile ist klar, dass die komplexe Mischung der Giftstoffe am "Ground Zero" bei den Helfern zu chemischen Verbrennungen führte. Das hat chronische Infektionen bewirkt, die mittlerweile eine ganz neue Generation von Gesundheitsproblemen mit sich gebracht haben, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen. Diese Verbindungen kann man allerdings nur knüpfen, wenn man die Patienten langfristig beobachtet und betreut.

Inwieweit hat sich der Zustand der Patienten in den 15 Jahren verändert?

Luft: Ich würde sagen, dass heute noch ungefähr die Hälfte der Helfer erhebliche Gesundheitseinschränkungen hat. Anderen geht es besser. Viele, die unter Symptomen leiden, haben gelernt, mit ihnen zu leben.

Wir haben es mit einem besonderen Schlag Menschen zu tun: Sie sind oft sehr gemeinwohl-orientiert und altruistisch. Ihnen hilft es in der Regel gesundheitlich, sich wieder für andere einzusetzen. Für mich ist das immer wieder bewegend zu sehen, dass diese Menschen, die selbst so schwere Verletzungen haben, wieder motiviert sind, anderen zu helfen.

Was hat Sie dazu gebracht, die Erfahrungen Ihrer Patienten aufzuzeichnen?

Luft: Anfänglich wurde viel Positives über die Helfer am "Ground Zero" berichtet. Geschichten über ihre Selbstlosigkeit, ihren Mut, über ihre Kameradschaft und Loyalität – alles Dinge, die für uns als Gesellschaft im Heilungsprozess so wichtig waren.

Nach und nach änderte sich jedoch die Berichterstattung. Je nach journalistischer "Linse" wurden die Helfer mal als Helden, mal als Kriegsversehrte dargestellt.

Doch wenn man dann mit den Betroffenen selbst sprach, ging das in der Regel an ihrer Erfahrung vorbei. Sie hatten ganz andere, existenzielle, nach Sinn forschende Fragen. An einem Punkt dachte ich: Wir müssen ihnen die Gelegenheit geben, ihre Erfahrungen selbst weiterzugeben.

Das haben wir dann einfach gemacht: Mit einem kleinen Team nahmen wir über 300 Erfahrungsberichte per Videokamera auf. 200 wurden aufbereitet und sind heute als mündlich überlieferte Geschichte in der Staatsbibliothek verfügbar. Außerdem haben wir die Berichte in einem Buch veröffentlicht, damit mehr Menschen Zugang zu ihnen haben.

In Kooperation mit Bildungsexperten haben wir zudem eine Unterrichtseinheit über den 11. September entwickelt, die heute landesweit in Schulen einsetzbar ist. Aus meiner Sicht brauchen wir all das, um zu begreifen, was passiert ist.

An der Universität unterrichten Sie Medizinstudenten ebenfalls zum Thema?

Luft: Ja, der Kurs läuft unter dem Namen "9/11 – Die Anatomie eines gesundheitlichen Desasters". Es war uns wichtig, den 11. September aus allen Blickwinkeln zu betrachten: natürlich mit Fokus auf die medizinischen und psychologischen Auswirkungen, aber auch darauf, was auf politischer, ökologischer, ökonomischer und soziologischer Ebene passierte und welche Rolle die Medien spielten.

In diesem Prozess schauten wir uns auch an, wie Betroffene ihre Erfahrungen mitteilten. Dazu luden wir Helfer vom "Ground Zero" ein und ließen sie erzählen. Ärzte, die sie behandelt haben, kamen ebenfalls. So fand ein Erfahrungsaustausch statt, den alle Beteiligten äußerst wertvoll fanden. Einige der behandelnden Ärzte hörten beispielsweise zum ersten Mal, welche Auswirkungen der 11. September nicht nur auf die Helfer, sondern auch auf ihre Familienmitglieder hatte.

Wie hat der jahrelange Kontakt zu den "Ground Zero"-Helfern Sie persönlich geprägt?

Luft: Er hat mich äußerst tief geprägt. Diese Patienten habe mich Demut gelehrt - im besten Sinn des Wortes. Während ich sie behandelt habe, stellte ich immer wieder fest: Ich befinde mich in der Gegenwart von heldenhaften Menschen – Individuen, die ganz bewusst ihre eigenen Bedürfnisse, ihre eigene Sicherheit und Gesundheit für andere, für das Gemeinwohl zurückstellten.

Es ist mir sehr bewusst geworden, dass ich selbst nicht zum Katastrophenort gerannt bin. Ich kannte meine Grenzen. Angesichts dessen hat es mich tief beeindruckt, mit Menschen in Berührung zu kommen, deren Einsatz solche Grenzen sprengte: Menschen, die die Kapazität haben, das Richtige zu tun – egal, welche Opfer es ihnen abverlangt.

Welche Lehren können Ihrer Ansicht nach noch aus den Geschehnissen des 11. Septembers gezogen werden?

Luft: Was ich heute noch als bedrückend empfinde, ist die Tatsache, dass man den Helfern gegenüber nicht ehrlich war. Ich weiß zwar nicht, ob es etwas geändert hätte, wenn man ihnen gesagt hätte, wie gesundheitsgefährdend ihr Einsatz war. Die meisten hätten wahrscheinlich trotzdem weitergemacht.

Aber ich finde, die Verantwortlichen – sprich die Regierung oder die Umweltbehörde – hatten nicht das Recht, die Risiken zu verschweigen. Der Mangel an Offenheit hat auf jeden Fall mehr Probleme verursacht, als man sich damals vorstellen konnte.

Manche der "Ground Zero"-Helfer fühlten sich zum Zeitpunkt Ihrer Interviews ein Stück weit von der Gesellschaft im Stich gelassen. Hat sich das geändert, seit ihre Gesundheitsversorgung gesetzlich gesichert ist?

Luft: Es war einfach desillusionierend, wie lange es dauerte, bis der Gesetzgeber einsah, was die Gesellschaft den Helfern schuldet. Es war erstaunlich schwer, eine kostenfreie Gesundheitsversorgung durchzusetzen und bedurfte einer Menge Überzeugungsarbeit.

Letztendlich war es aber für die Betroffenen eine positive Erfahrung, wie viele sich an ihrer Seite für die Sache einsetzten und am Ende den Erfolg zu sehen.

Seit 2014 arbeiten Sie an mehreren von der Regierung finanzierten Forschungsprojekten. Worum geht es dabei?

Luft: Wir haben festgestellt, dass die Arbeit am "Ground Zero" auch Einfluss auf den Alterungsprozess hat. Unsere Forschung zeigt kognitive Einschränkungen unter den Betroffenen. In einem anderem Projekt erforschen wir genetische Veränderungen, die durch die physische und psychische Belastung an der Unglücksstelle entstanden sind.

Unsere Forschung bestätigt auf jeden Fall, dass Gehirn und Körper nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können, sondern intensiv miteinander verknüpft sind.

Lesen Sie dazu auch: 9/11: Das Leid der Helfer 15 Jahre nach dem Terror

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