Lager Friedland

"Vier Millionen sind hier durchgegangen"

Viele derer, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung suchten, kamen hier an – im Lager Friedland, nahe Göttingen. Dr. Michael Gewecke kümmert sich um die Neuankömmlinge.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Das medizinische Team im Lager Friedland rund um Hausarzt Dr. Andreas Gewecke (zweiter von rechts).

Das medizinische Team im Lager Friedland rund um Hausarzt Dr. Andreas Gewecke (zweiter von rechts).

© Christian Beneker

An der Wand des Wartezimmers hängt das Grundgesetz – auf Deutsch und Arabisch. Einige für diesen Ort wichtige Artikel wurden in Comic-Strips umgesetzt: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" (Artikel 16a). "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" (Artikel 3). Und natürlich Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".

Wir sind in der Krankenstation des Grenzdurchgangslagers Friedland bei Göttingen nahe der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Freiheit und Recht, "unantastbar", "unverletzlich" – Deutschland hält seinen Gästen und Zuwanderern in diesem abgewetzten Wartezimmer die Kronjuwelen der Republik vor Augen.

Und draußen ein blühender Frühlingstag. Reihen flacher, weißer barackenartiger Häuser. Auf den Bänken vor den Eingangstüren sitzen die Alten in der Wärme. Kleine Kinder strolchen Hand in Hand übers Gelände und untersuchen ein paar Grashalme, eine Cola-Dose, eine Narzisse. Junge Paare mit Kinderwagen, die Frauen in Kopftuch und langen Gewändern. Die Menschen flanieren oft in großen Gruppen über die Betonwege zwischen den Quartieren. Der erste Zitronenfalter.

"So reingewachsen"

"Heute ist wenig los", sagt Hausarzt Dr. Michael Gewecke. Tatsächlich hallen die Schritte auf den Fluren der Malteser-Krankenstation. Er hat die Sprechstunde hinter sich. Seit mehr als 20 Jahren macht er diese Arbeit im Lager Friedland. Gewecke hat seine Praxis in Rosdorf unweit von Göttingen. Sein Kollege aus der heimischen Praxis und er teilen sich den Dienst in der Krankenstation mit drei anderen Praxen. "Wir wechseln täglich und besetzen fünf Tage die Woche." Er sei hier so reingewachsen, sagt er lapidar. Irgendwann in den 90er Jahren.

Seither kommt er nach Friedland, immer montagnachmittags. 2015 in den Monaten des großen Ansturms gab es dann auch eine offizielle Beauftragung vom Land, berichtet er. Er macht allerdings den Eindruck, als sei ihm das herzlich egal. Er ist zunächst mal Arzt, da spielt es keine Rolle, ob er Schnupfen offiziell kuriert und beauftragt den Puls fühlt.

Die Ruhe nach dem Sturm

Sonne, Wärme, Sicherheit und einen Doktor gibt es auch – eine Idylle also, müsste man sagen, wenn man nicht wüsste, was die Bewohner des Lagers Friedland durchgemacht haben. Friedland ist keine Idylle, Friedland ist heute so etwas wie die Ruhe nach dem Sturm.

Das Grenzdurchgangslager Friedland bietet Platz für 740 Menschen, ein paar Wochen lang. "Seit der Gründung des Lagers sind ungefähr vier Millionen Menschen hier durchgegangen", sagt Jürgen Hublitz, Leiter der Malteser-Krankenstation. Zusammen mit Schwester Angelika Nolte und Schwester Heidi Gries, zwei Kolleginnen von den Maltesern, stemmt er heute die Schicht. Vier Millionen – das sind mehr als heute in Berlin leben.

Zuerst kamen die Heimkehrer des Zweiten Weltkrieges aus Russland. Die Bilder der ausgemergelten Männer in Friedland gehören heute quasi zur Ikonografie der Republik. Später die Flüchtlinge aus Ungarn, die nach gescheitertem Aufstand 1957 fliehen mussten. Oder Menschen aus Chile, die vor Pinochets Putsch flohen. Dann die Boatpeople aus Nordvietnam, dann die Asylsuchenden, dann die Russlanddeutschen. Und dann die vielen Syrer, die Flüchtlinge vom Balkan, aus Afrika. "Im Jahr 2005 lebten hier 3900 Flüchtlinge aus aller Herren Länder", berichtet Hublitz. "Wir waren total überfüllt, die Betten standen überall auf den Fluren." 2005 war sein erstes Jahr als Leiter der Station.

"Mit den vielen Menschen hatten wir alle nicht gerechnet", sagte er rückblickend. Schichtweise duschen, schichtweise essen und eine überfüllte Krankenstation. Die Sprechstunde dauert normalerweise täglich von 14 bis etwa 16.30 Uhr. "2015 waren wir um 20 Uhr noch nicht fertig und mussten viele Patienten auf den nächsten Tag vertrösten. Und das war schwer, weil viele Flüchtlinge es sich nicht vorstellen konnten, dass der Doktor morgen wiederkommt." Heute geht die medizinische Versorgung ihren geregelten Gang: Zur Erstuntersuchung sind die Flüchtlinge im Krankenhaus Weende: Röntgenbild, Impfungen, gegebenenfalls Blutuntersuchung. Die Bewohner Friedlands erhalten medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: "Alles Akute und gynäkologische Versorgung ist abgedeckt", sagt Hublitz.

Schuhe gut?

Gewecke versorgt hier die Patienten mit Erkältungen, "wenn sie im Winter in Schlappen rumgelaufen sind", wie er sagt, mit Schmerzen, mit Diabetes, es gab auch Fälle von Tuberkulose oder Krätze. Im Großen und Ganzen sind Friedlands Bewohner aber so krank oder gesund wie alle anderen Patienten auch. Hublitz und Gewecke berichten aber auch von traumatisierten Frauen, von Kindern mit Verbrennungen oder offenem Rücken. "Aber eigentlich ist es bei uns wie in manchen Stadtteilen Berlins wohl auch: Die Patienten kommen aus Eritrea, Lybien, Syrien, der Elfenbeinküste – man braucht vor allem Geduld."

Rund 120 Patienten versorgt die Station wöchentlich. Bezahlt wird die komplette medizinische Versorgung vom Land Niedersachsen. Die Leistungen der Ärzte werden ganz normal mit der KV abgerechnet, die sich das Geld dann vom Land zurückholt.

"Hallo! Schuhe gut?" Die Stimme von Schwester Angelika dringt aus dem Flur herüber. "Ja, Schuhe gut". "Fein. You have a white card. Kann ich die mal sehen?" Meistens kommt man mit Englisch zurecht oder "mit Händen und Füßen, wenn die Patienten auf den Kopf deuten, auf den Brustkorb, wenn sie husten, dann weiß ich ja Bescheid", sagt Gewecke. Wenn die Verständigung so nicht klappt, dann helfen Dolmetscher. An der Wand des Behandlungszimmers hängt eine Liste mit ihren Telefonnummern. Auf Englisch, Arabisch, Kyrillisch und Deutsch erinnern Schilder: "Medikamente ab 20.00 Uhr abholen."

Und wenn kein Arzt da ist, dann versorgen Bublitz und seine Kolleginnen die kleineren Malaisen aus dem Notfallkoffer. "Wir fahren bei Bedarf mit dem Fahrrad zu den Unterkünften und gucken, was los ist." Im Zweifel rufen die Maltester den Rettungswagen. "Es gibt eben auch mal Schlägereien oder Stichverletzungen."

Bublitz führt durch die Krankenstation. Fünf Zimmer, elf Betten. Hier lebt, wer allein nicht zurecht kommt und es zum Beispiel nicht schafft, in die Doppelstockbetten der Unterkünfte zu krabbeln. Oder Patienten, die Behandlungspflege brauchen.

Knapp unter der Flurdecke hängt ein kleines, abgeschabtes Kruzifix. Jemand hat einen Buchsbaumzweig an das Kreuz gesteckt. Hat die Arbeit hier noch konfessionelle Bindung? "Nein", meint Hublitz. Allerdings waren die Russlanddeutschen sehr religiös. "Den Zweig habe ich da hin getan", sagt dann Schwester Angelika, die gerade dazu kommt. "Das Kreuz hat hier schon eine Menge gesehen", sagt sie – weiß Gott.

Die Syrerin, deren Mann vor ihren Augen getötet wurde, deren beide Kinder entführt wurden und die bis heute verschwunden sind. Oder den Offizier aus Syrien, der beide Unterschenkel durch eine Mine verloren hat und von Deutschland aus seine Familie suchte. "Leider ohne Erfolg", sagt Bublitz. Oder die vielen durch Vergewaltigungen traumatisierten Frauen. Oder die Russlanddeutschen, die mit unbehandelten Knochenbrüchen hier ankamen. Aber auch den Sehbehinderten, der an der Göttinger Uniklinik operiert wurde und sehend wurde. Wie antastbar die Würde des Menschen doch ist.

Lesen Sie dazu auch: Interview: Flüchtlinge im Gespräch mit dem E-Arzt

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