Berichtssysteme - Fehler vermeiden, Qualität erhöhen!

Nach Aussage von EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou ist jede zehnte medizinische Behandlung in der EU fehlerhaft. Kliniker und Niedergelassene stellen sich der Herausforderung: Berichtssysteme sollen bei der Fehlervermeidung helfen.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:

Menschen machen Fehler - auch Ärzte. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit - ein Zusammenschluss von Medizinern, Krankenkassen, Patienteninitiativen und anderen Organisationen - schätzt, dass es bei bis zu zehn Prozent aller Krankenhauspatienten in Deutschland zu so genannten "unerwünschten Ereignissen" kommt. Bei etwa 36 Millionen stationären Behandlungen pro Jahr wären das immerhin 3,6 Millionen Fälle, in denen etwas schief geht: Ein Medikament wird vertauscht oder falsch dosiert, ein Knochenbruch im Röntgenbild nicht erkannt oder der Name eines Patienten mit dem eines anderen verwechselt, wo- raufhin die falsche Therapie eingeleitet wird.

"Fehler festzustellen, das ist nur der halbe Weg"

Wie lässt sich die Fehlerzahl reduzieren? "Das wichtigste Instrument, die Patientensicherheit zu verbessern, ist das gemeinsame Lernen aus Fehlern", erklärt der Vorsitzende des Aktionsbündnisses, Professor Matthias Schrappe. "Festzustellen, dass es Fehler in der Medizin gibt, ist nur der halbe Weg. Man muss schon den ganzen Weg gehen und Konsequenzen ziehen", bestätigt Professor Hartmut Siebert, Chefarzt an der Klinik für Unfallchirurgie am Evangelischen Diakoniewerk Schwäbisch-Hall. Die Fehlerkultur in Krankenhäusern und Praxen müsse um eine Sicherheits- und Risikokultur ergänzt werden.

Mittlerweile kommen solche Botschaften an. "Über Behandlungsfehler zu sprechen, um daraus zu lernen, war in Deutschland jahrelang ein schwieriges Unterfangen. Ich bin froh, dass sich heute offener darüber diskutieren lässt", sagt Professor Axel Ekkernkamp, Ärztlicher Direktor am Unfallkrankenhaus Berlin (ukb). Belege für den Wandel im Umgang mit Fehlern sind mehrere Berichtssysteme im Internet. Das bekannteste von ihnen ist das Critical Incident Reporting System - kurz CIRS genannt. Dabei handelt es sich um ein freiwilliges Berichtssystem über kritische Ereignisse (critical incident) und Beinah-Schäden (near miss), das allen Ärzten und Pflegefachkräften zugänglich ist.

Berichtenswert sind sowohl positive, das heißt risikovermeidende Ereignisse, wie auch Vorkommnisse, die beinahe zu einem Schaden geführt hätten und die der Berichtende daher in Zukunft unbedingt vermieden sehen möchte. Alle Berichte müssen anonym gehalten sein und dürfen keine Informationen enthalten, die Rückschlüsse auf die berichtende Person und andere Personen oder Institutionen erlauben.

Sind wichtige Grundregeln: Anonymität und Straffreiheit

Eine weitere Grundregel von CIRS lautet: Der Berichtende wird nicht sanktioniert. "Wer straft, verhindert die Risikoerkenntnis und damit die mögliche Fehlervermeidung", sagt Schrappe. Entscheidend sei, das Wissen aus CIRS gezielt einzusetzen, um die Patientensicherheit weiter zu verbessern. "Ein CIRS ohne Risikomanagement ist nutzlos."

Nur wer über Fehler berichtet, kann daraus lernen - dieses an sich simple Prinzip liegt auch PaSOS zugrunde. Das Patienten-Sicherheits-Optimierungs-System wurde vom Bundesverband Deutscher Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie (DGAI) entwickelt. Betrieben wird das Berichtssystem vom Patienten-, Sicherheits- und Simulationszentrum (TüPAS) in Tübingen. Wie CIRS, dient auch PaSOS der anonymen Erfassung, Analyse und Verbreitung "sicherheitsrelevanter Ereignisse" in der Medizin.

Berichten können Ärzte aus Kliniken und Praxen. Die Anonymität aller Beteiligten genießt dabei absolute Priorität. Die bei PaSOS eingestellten Meldungen, bei denen der berichtende Arzt unter anderen Datum, Ort und Umstände des kritischen Ereignisses einträgt, sind "freitextbasiert". Auf diese Weise sollen die Fälle so realitätsnah wie möglich geschildert werden. Anschließend werden die Meldungen von "Zwischenfall-Experten ausgewertet" und in Form von konkreten Handlungsempfehlungen an die Nutzer zurückgemeldet.

Ein Berichtssystem speziell für Hausarztpraxen

Nicht bloß aus eigenen, sondern auch aus Fehlern von Kollegen lernen - dieses Ziel verfolgt das Fehlerberichts- und Lernsystem der Universität Frankfurt am Main, das eigens für Hausarztpraxen entwickelt wurde und mittlerweile über 6000 Nutzer im Monat auf die entsprechende Webseite lockt.

Berichten dürfen bei diesem System sowohl Ärzte als auch Praxismitarbeiter - und zwar über jedes Ereignis, von dem sie meinen: "Das war eine Bedrohung für das Wohlergehen des Patienten und sollte nicht passieren." Alle Berichte werden verschlüsselt auf den Server des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt geschickt. Dort wertet ein "Fehlerteam" die eingehenden Berichte aus und klassifiziert sie nach "Medikationsfehler", "Laborfehler" und anderen Themen. Alle Berichte können anschließend auch von anderen Ärzten und Praxisangestellten gelesen und kommentiert werden. Ausdrücklich erwünscht sind dabei Tipps und Lösungsansätze, wie ähnliche Fehler in der eigenen Hausarztpraxis vermieden werden können.

Die drei Fehlerberichtssysteme gibt es im Web unter: www.cirsmedical.de www.pasos-ains.de www.jeder-fehler-zaehlt.de

Lesen Sie auch: Fehler zuzugeben, davor haben Ärzte immer noch Angst Hängt Zahl der Unfälle von der Arbeitszeit ab?

WO QUALITÄTSSICHERUNG GUT FUNKTIONIERT

Laborbefund ist da, Patientin aber nicht

Bei einer sehr blassen 78-jährigen Patientin wird Blut abgenommen und der Hb-Wert bestimmt. Der liegt bei 8,5 g/dl. Die Patientin kommt aber nicht wieder in die Praxis, stattdessen fragt zwei Wochen später die Tochter nach den Laborergebnissen. Als Abhilfe wird auf www.jeder-fehler-zaehlt.de vorgeschlagen, feste Termine abzumachen, dann wäre das Ausbleiben der Patienten zumindest im Terminbuch aufgefallen. Oder: Patienten sollen sich eigenständig erkundigen, außer, der Befund ist kritisch, dann ruft die Praxis an. (hub)

Warum rutscht der Patient vom Tisch?

Im System PaSOS wird gemeldet: Ein Patient ist teilweise vom Op-Tisch gerutscht. Er war auf Wunsch des Operateurs in starke Kopftieflage gebracht worden. Zur Wärmekonservierung war der Kopf des Patienten komplett verhüllt. Erst einem Kollegen ist aufgefallen, dass der Kopf des Patienten nicht mehr auf dem Tisch liegt, sondern in der Luft hängt. Konsequenzen für die Zukunft: Lagerungsbitten der Operateure nur gut reflektiert umsetzen, Lagerung regelmäßig kontrollieren, Kopf nicht ganz verhüllen, eventuell Schulterstützen. (hub)

Ist es der richtige Patient für die Op? Tipps gegen Verwechslungen

Verwechslungen bei operativen Eingriffen gehören zu den häufigen und gefährlichsten Fehlern in der Medizin. An den DRK Kliniken Berlin ist deshalb ein mehrstufiges Sicherheitsverfahren entwickelt worden, das aus vier Kontrollstufen besteht: In einem ersten Schritt werden im Rahmen der ärztlichen Aufklärung Name und Geburtsdatum des Patienten identifiziert. In einem zweiten Schritt wird mit einem wasserfesten Stift der Eingriffsort farblich markiert - wenn möglich, zeigt der Patient dem Arzt selbst die Eingriffsstelle.

Bei Übernahme in den OP wird der Patient erneut durch Überprüfung von Name und Geburtsdatum identifiziert. Das Gleiche geschieht vor Narkosebeginn. In beiden Fällen wird die Markierung des Eingriffsortes nochmals gegengecheckt. Die letzte Stufe des Kontrollverfahrens bildet ein so genanntes "Team-Time-Out" - ein kurzes Innehalten des Op-Teams unmittelbar vor dem Eingriff. Auch hier werden Name des Patienten, Eingriffsart, Eingriffsort und Eingriffsseite noch einmal auf ihre Richtigkeit hin überprüft. (hom)

Arzneiausgabe - so geht's korrekt

Die DRK Kliniken Berlin haben ein Verfahren zur korrekten Medikamentenverteilung entwickelt: Vorbereitung und Ausgabe der Medikamente durch ein- und dieselbe Person. Die Ausgabe erfolgt direkt im Patientenzimmer, jeweils für einen Patienten. Alle verabreichten Arzneien werden einzeln durch das Namenskürzel des Verantwortlichen abgezeichnet. Dass der "richtige Patient" das "richtige Medikament" bekommt, wird durch Ansprache und Kontrolle des Namensbändchens sichergestellt, das jeder Patient trägt. (hom)

Geimpft - aber die falsche Frau Müller

Zwei weibliche Patienten mit demselben Nachnamen sind zeitgleich in der Praxis. Eine ist bereits im Behandlungsraum, eine im Wartezimmer. Frau Müller wird aufgerufen und erhält - falsch - eine Auffrischimpfung gegen Tetanus, Diphtherie und Pertussis, so www.jeder-fehler-zaehlt.de. Zur Fehlervermeidung schlagen Kollegen vor: Bei häufigen Namen sollte generell das Geburtsdatum kontrolliert oder vom Patienten erfragt werden. Sind mehrere Patienten gleichen Namens in der Praxis: auf Karte vermerken! (hub)

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