Die "Krankheit des Vergessens" wird zum beherrschenden Thema in der Pflege. Auf Deutschlands Kranken- und Pflegekassen rollen Kosten in Milliardenhöhe zu.

Von Thomas Hommel

Laut Pflegereport 2010 der Krankenkasse Barmer GEK müssen fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann in Deutschland damit rechnen, dement zu werden. Gegenwärtig, so Berechnungen des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen, dessen Mitarbeiter den aktuellen Pflegereport verfasst haben, sind etwa 1,2 Millionen Bundesbürger an Demenz erkrankt - der überwiegende Teil von ihnen an Alzheimer-Demenz.

Für das Jahr 2030 prognostizieren die Wissenschaftler einen Anstieg der Zahl der Demenzkranken auf 1,8 Millionen und für das Jahr 2060 sogar auf rund 2,5 Millionen. Damit würde sich der Anteil der Demenzkranken an der Gesamtbevölkerung innerhalb von 50 Jahren um das Zweieinhalbfache von heute 1,5 auf dann 3,8 Prozent erhöhen. Von einem "ungemütlichen Szenario", spricht denn auch Barmer GEK-Vorstand Dr. Rolf-Ulrich Schlenker.

Dass das Szenario von bis zu drei Millionen Demenzkranken künftig eintreten kann, wird von kaum jemandem bestritten. Denn an eine Therapie, mit der sich die Krankheit des Vergessens heilen oder verhindern ließe, wagen selbst optimistische Hirnforscher nicht zu glauben. Wenn überhaupt, lasse sich der Verlauf der Demenz durch Medikamente höchstens verlangsamen.

Für die Pflege und die Pflegeversicherung zieht die Zunahme der Demenz erhebliche Folgen nach sich. Zwar heißt pflegebedürftig zu sein nicht automatisch, dement zu sein. Aber Demenz führt fast immer zu Pflegebedürftigkeit. Damit nicht genug.

Demenzpatienten müssen in der Regel länger und intensiver gepflegt werden. Die Anforderungen sind höher als in anderen Bereichen der Pflege. "Mit der Entwicklung dementieller Erkrankungen stoßen wir in eine ganz neue Pflegedimension vor", so Kassenmanager Schlenker. Es fordert eine "tragfähige Lösung für die Pflege von morgen".

Die Pflegeversicherung wird dem bislang nur ein wenig gerecht. Zwar wurde mit der Pflegereform 2008 das Leistungsniveau für an Demenz Erkrankte weiter angehoben. Aus den anfänglichen 460 Euro pro Jahr wurden 1200 Euro (Grundbetrag) beziehungsweise 2400 Euro (erhöhter Betrag).

Diese Hilfe, auf die Betroffene Anspruch haben, reicht aber hinten und vorne nicht aus. "Das Problem ist nicht, dass Demente beim Leistungsgeschehen draußen vor der Türe stehen, sondern dass sie Leistungen beziehen, die nicht ausreichen", sagt der Bremer Gesundheitsökonom Professor Heinz Rothgang.

Durch Demenz entstehe ein "großer Aufwand an medizinischer und pflegerischer Versorgung", weiß der Experte. Die von Pflege- und Krankenkassen aufzubringenden Kosten für einen Demenzkranken lägen auf das Jahr hochgerechnet um rund 10 000 Euro höher als bei einem Nicht-Dementen, hat Rothgang errechnet. Eine steigende Zahl an Demenzkranken bedeutet daher: Auf Deutschlands Sozialkassen rollt eine gigantische Kostenwelle zu.

Werden die Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz nochmals ausgeweitet - und das wäre bei der von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) angekündigten Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs der Fall - würden die Pflegekosten weiter kräftig steigen. Woher die zusätzlichen Milliarden kommen sollen, will die Koalition bis Ende nächsten Jahres klären. Fest steht bislang nur: Leicht wird das nicht.

Um Schlaganfall und Altersdemenz - häufige Ursachen für dauerhafte und schwere Pflegebedürftigkeit - vorbeugen zu können, müssen Risikopatienten rechtzeitig identifiziert werden. In Bayern stellt sich die AOK gemeinsam mit Hausärzten und Neurologen im Rahmen des Interventionsprogramms zerebrovaskuläre Erkrankungen und Demenz im Landkreis Ebersberg (INVADE) seit knapp zehn Jahren dieser Aufgabe.

Die zentrale Idee des Projekts INVADE liegt in einer konsequenten Erfassung und möglichen Behandlung von vaskulären Risikofaktoren wie Hochdruck, Hypercholesterinämie, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Rauchen, Herzvorhofflimmern und nicht zuletzt Bewegungsmangel und Übergewicht. Im Mittelpunkt von INVADE steht eine Knöchel-Arm-Blutdruckmessung, mit der sich Patienten ausfindig machen lassen, die ein hohes Risiko tragen, an Demenz zu erkranken oder einen Schlaganfall zu erleiden.

Sind die Risikopatienten identifiziert, können Behandlungen eingeleitet und Folgeerkrankungen sowie Pflegebedürftigkeit teilweise verhindert werden. Partner des Projekts sind neben der AOK Bayern die Deutsche Stiftung Neurologie (DSN), Schwerpunktkliniken in den Bereichen Neurologie und Psychiatrie sowie der Pharmahersteller Berlin Chemie. "Gerade vor dem Hintergrund, dass die Zahl der über 65-Jährigen hierzulande bis zum Jahr 2050 auf etwa 23 Millionen ansteigen wird, müssen bereits jetzt Präventionsmaßnahmen angestoßen werden, um die Versorgungsqualität und die Finanzierungsgrundlagen unseres Gesundheitssystems aufrechtzuerhalten", begründet Dr. Helmut Platzer, Chef der AOK Bayern, das Engagement der Akteure vor Ort.

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