Wenn Kollegen aufhören

Hilfe, mein Nachbar schließt die Praxis

Ob in der Stadt oder auf dem Land: Wenn Ärzte ihre Praxis schließen, steigt der Patientenandrang bei den Kollegen. Viele realisieren das erst zu spät - dabei ließe sich gemeinsam eine Lösung finden.

Von Johanna Dielmann-von Berg Veröffentlicht:
Arztpraxis eindeutig frei: Wenn der Kollege schließt, hilft anderen Ärzten vor allem Kooperation.

Arztpraxis eindeutig frei: Wenn der Kollege schließt, hilft anderen Ärzten vor allem Kooperation.

© Steinach / imago

NEU-ISENBURG. "Hilfe, mein Nachbar schließt die Praxis!" Mit diesem Problem sehen sich immer mehr Ärzte konfrontiert.

Allein von 2009 auf 2010 ist der Anteil der Vertragsärzte im Alter von mindestens 60 Jahren laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung um fast zwei Prozentpunkte von 19,6 auf 21,5 Prozent gestiegen. Besonders unter Hausärzten gibt es viele ältere Kollegen.

Etwa ein Viertel von ihnen ist mindestens 60 Jahre alt. Gerade auf dem Land ist es für viele schwer, einen Nachfolger zu finden.

Anders als vielleicht noch vor 20 Jahren müssen Ärzte heute von Konkurrenz auf Kooperation umschalten, wenn ein Kollege die Praxis zumacht. Früher nahm die Arztdichte eher zu.

Noch vor einer Generation standen also genug Nachfolger bei einer Praxisabgabe bereit. Ärzte mussten sogar zusehen, dass ihre Patienten nicht zu Kollegen abwanderten.

Inzwischen hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Die Aufnahme zusätzlicher Patienten von Kollegen stellt die verbleibenden Praxisinhaber vor große Herausforderungen.

Denn in strukturschwachen Gebieten ist es nicht mehr selten, dass Praxen pro Quartal bereits 1200 bis 1500 Patienten betreuen. Kommen dann noch Hunderte von Patienten dazu, müssen Abrechnung, Praxisabläufe, räumliche und personelle Ausstattung auf den Prüfstand.

"Das größte Problem ist, dass viele Ärzte zwar beobachten, dass ein benachbarter Kollege einen Käufer für seine Praxis sucht. Sie realisieren aber nicht, dass dies auch sie selbst betrifft", sagt Thomas Feldmann, Praxisberater beim Beratungsunternehmen HCC BetterCare.

Die Folge: Ärzte reagieren wenig strategisch auf den immens steigenden Versorgungsdruck. Die zusätzlichen Patienten erhöhen zwar zunächst den Praxisumsatz. Betreuen die Ärzte aber mehr Patienten als die Fachgruppe im Schnitt, können die Praxen in die Abstaffelung geraten.

Die zusätzlichen Leistungen werden dann in vielen KVen schlechter vergütet. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz (VStG) haben KVen allerdings nun die Möglichkeit, die Mengenbegrenzung entfallen zu lassen. Bisher machen die KVen sehr unterschiedlich davon Gebrauch.

Unterstützung von den KVen

In Mecklenburg-Vorpommern etwa stehen neun von 16 Planungsbereichen kurz vor der Unterversorgung mit Hausärzten. Im Gegensatz zu anderen Ländern hat die KV hier nicht nur die Abstaffelung für Hausärzte in diesen Regionen gekippt, es gibt obendrein noch einen Honorarzuschlag.

Für jeden Patienten, mit dem die durchschnittliche Fallzahl überschritten wird, zahlt die KV zehn Euro im Quartal extra (sogenannter Sicherstellungszuschlag).

Hingegen hat Westfalen-Lippe die Fallzahlgrenze für alle Haus- und Fachärzte aufgehoben. In Bayern bleibt die Begrenzung erhalten. Hier müssen Ärzte bei der KV beantragen, dass die Abrechnungsgrenzen erhöht werden.

Mit dem GKV-VStG haben aber bereits viele KVen auf die quartalsgleiche Abrechnung umgestellt. Steigende Patientenzahlen schlagen sich also direkt und nicht mehr zeitverzögert in der Vergütung nieder.

Neben der Abrechnung können KVen auch helfen, Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Ein Problem, das viele Ärztinnen von einer Niederlassung abhält.

In Mecklenburg-Vorpommern etwa leistet die KV Zuschüsse für Kinderbetreuung und Mutterschutz, damit zum Beispiel für diese Zeit Assistenten beschäftigt werden können. Das GKV-VStG erlaubt es auch, Arztsitze zu teilen, so sind Familie und Beruf eher unter einen Hut zu bekommen.

Schließen benachbarte Praxen, sollten aber auch ethische Erwartungen in ihren wirtschaftlichen Folgen nicht unterschätzt werden.

Ist es erst einmal so weit, dass Ärzte keine weiteren Patienten mehr aufnehmen können, fühlen sich Ärzte oft dazu verpflichtet, zumindest die nicht-mobilen Patienten weiterhin zu betreuen.

Viele kreative Möglichkeiten

Als Konsequenz wandern vor allem unkomplizierte, meist junge Patienten in andere Praxen ab. Auf Dauer schrumpfe dann der Patientenstamm und damit der Umsatz, sagt Praxisberater Feldmann. Denn für die ausscheidenden älteren Patienten kämen keine jungen nach.

Umso wichtiger ist es daher, dass sich Ärzte frühzeitig auf den Patientenandrang vorbereiten. Das heißt zum Beispiel: nach Kooperationspartnern suchen. "Die Chance, einen Partner zu finden, sind höher, als eine Einzelpraxis zu verkaufen", rät Feldmann. So sollten ausscheidende und verbleibende Ärzte rechtzeitig zusammenarbeiten.

Das VStG und das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz böten inzwischen attraktive Möglichkeiten zur Kooperation: Mobile Versorgungskonzepte, Vernetzungen und Kooperationen von Ärzten können nun gefördert werden.

Das Ärztenetz Südbrandenburg beschreitet in dieser Hinsicht neue rechtliche Pfade. Es ist das erste Ärztenetz, das ein MVZ trägt. Dort angestellte Ärzte können sich auch später noch für eine Niederlassung entscheiden. Denn durch das VStG kann die Zulassung aus einem MVZ mit in die Niederlassung genommen werden.

In Sachsen-Anhalt finanziert die KV Filialpraxen in unterversorgten Gebieten. Die KV stellt dafür Ärzte an und niedergelassene Kollegen aus der Region können dort als Honorarärzte arbeiten oder die Filialpraxis als Zweigpraxis nutzen. Der Kreativität sind also kaum Grenzen gesetzt, wenn Nachbars Praxis schließt.

Szenario 1

Mehrere Praxen älterer Kollegen werden bald schließen.

Strategie: Gemeinsam mit Kollegen vor Ort nach Nachfolgern suchen. Potenziellen Nachfolgern Kooperationen als Einstieg anbieten, zum Beispiel Eröffnung einer Zweigpraxis im Nachbarort oder als Angestellter in einem MVZ.

Zu erledigen: Ist die Praxis für eine Kooperation zu klein, müssen größere Räume gesucht werden. Medizinische Fachangestellte können weitergebildet werden. Sie können Ärzten bestimmte Tätigkeiten wie Hausbesuche abnehmen. So entstehen zeitliche Freiräume in der Praxis.

Szenario 2

Eine Nachbarpraxis wird in Kürze geschlossen.

Strategie: Kurzfristig müssen mehr Patienten versorgt werden. Langfristig sollten wie in Szenario 1 neue Ärzte mit Kooperationen in die Region gelockt werden.

Zu erledigen: Für die neuen Patienten brauchen die verbleibenden Ärzte eventuell mehr Personal. Sie könnten etwa qualifizierte Mitarbeiter des ausscheidenden Kollegen übernehmen. Diese kennen auch bereits die Patienten.

Organisatorische Abläufe sollten überprüft werden, eine Schlüsselstelle ist der Empfang. Entlastung bringt mittelfristig etwa eine Onlineterminbuchung.

Szenario 3

Eine benachbarte Praxis hat kürzlich geschlossen.

Strategie: Zusätzlich zu Szenario 2 sollte auch die Abrechnung auf den Prüfstand. Die neuen Patienten können dazu führen, dass die Praxis in die Abstaffelung gerät. Zudem verursachen mehr Patienten höhere Kosten, die durch steigende Umsätze gedeckt werden müssen.

Zu erledigen: Die Praxis sollte einen Antrag auf Anpassung der RLV, QZV oder der Individualbudgets an die tatsächlichen, höheren Fallzahlen stellen. Zudem kann je nach KV beantragt werden, die Abstaffelung auszusetzen, falls die Fallzahlen der Praxis zu sehr steigen.

Zeitfresser in der Praxisorganisation

Wenn Ärzte in der Nachbarschaft ihre Praxis schließen, sollten sich Kollegen vor Ort frühzeitig auf die zusätzlichen Patienten vorbereiten. Denn auf einen Schlag müssen oft je Nachbarspraxis über hundert Patienten zusätzlich versorgt werden. Praxisberater Thomas Feldmann von HCC BetterCare rät, Ärzte sollten jeweils die kommenden fünf Jahre im Blick haben.

Die wichtigste Ressource, an der es mangelt, ist Zeit. Je mehr Patienten betreut werden müssen, desto weniger Zeit bleibt für jeden Einzelnen. Mit dem Praxisteam sollte daher frühzeitig überlegt werden, wo in der Organisation noch Reserven stecken.

Dreh- und Angelpunkt sind die Mitarbeiter. Mit ihrer Hilfe können Zeitpolster gewonnen werden. Zwei Fragen sind dabei für viele Umstrukturierungen maßgeblich: Reicht das vorhandene Personal für die steigende Patientenzahl und die geplanten Veränderungen aus? Bringt das Team die nötigen Qualifikationen mit?

Ein Beispiel: Gut weitergebildet können Medizinische Fachangestellte Hausärzte von vielen Tätigkeiten entlasten, darunter etwa zeitaufwendige Hausbesuche. Erfolgreich praktiziert dies etwa das Hausarztzentrum Bad Bevensen. Die Zahl der Hausbesuche konnte dort mit Verahs um ein Drittel reduziert werden.

Die Fortbildung zu einer "Verah" dauert aber etwa drei Jahre. Die Qualifikation muss also frühzeitig angegangen werden. Einige KVen unterstützen die Fortbildung sogar finanziell.

Viel Zeit wird auch gewonnen, wenn Patienten besser gesteuert werden. So kommen einige chronisch kranke Patienten nicht immer nur aus medizinischen Gründen in die Praxis, andere bräuchten hingegen eine engere Betreuung. Behandlungspläne können helfen, die Besuchsfrequenz von Patienten zu senken, ohne dass sie dadurch schlechter versorgt werden. Dadurch wird eine intensivere Versorgung anderer Patienten möglich. Zudem können gut ausgebildete MFA für Ärzte manche Patientengespräche und -schulungen übernehmen.

Auch neue Technik schafft im Praxisalltag Freiräume für das Team. Können Patienten etwa Termine online vereinbaren, bleibt Mitarbeitern mehr Zeit für die Patienten in der Praxis.

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