"Es wird länger dauern als wir 1989 dachten"

Professor Wolfgang Böhmer musste sich 1991 entscheiden, ob er lieber Chefarzt bleiben oder ganz in die Politik einsteigen wollte. Er ist Politiker geworden und hat es bis zum Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt gebracht. Über seinen Lebensweg vor und nach der Wende sprach mit ihm Christiane Badenberg.

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"Wenn man einer Sache schaden will, braucht er nur zu sagen: Damit haben wir in der DDR gute Erfahrungen gemacht." (Professor Wolfgang Böhmer)

"Wenn man einer Sache schaden will, braucht er nur zu sagen: Damit haben wir in der DDR gute Erfahrungen gemacht." (Professor Wolfgang Böhmer)

© Viktoria Kühne

Ärzte Zeitung: Herr Ministerpräsident, wie sahen im Herbst des Jahres 1989 die Planungen für ihr eigenes Leben aus? Und konnten Sie diese verwirklichen oder mussten Sie Ihre Vorstellungen komplett ändern?

Böhmer: Natürlich war das für alle ehemaligen DDR-Bürger eine spannende Zeit. Wir wussten, dass es so nicht weitergehen kann. Wir ahnten, dass sich Grundsätzliches ändern muss, aber niemand wusste was. Und für alle kam die Öffnung der Mauer am 9. November überraschend. Wer heute behauptet, er habe das geahnt oder gewusst, der kommt aus meiner Sicht in erhebliche Erklärungsnöte.

Ärzte Zeitung: Als klar war, dass sich etwas ändern muss und die Mauer gefallen war, hatten Sie da eine Vorstellung, wie es mit Ihnen persönlich und beruflich weitergehen kann?

Zur Person

Professor Wolfgang Böhmer

Professor Wolfgang Böhmer ist seit Mai 2002 Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Zuvor war der Christdemokrat bereits Minister in verschiedenen Landeskabinetten. 1991 übernahm er zunächst eher aus politischer Vernunft denn aus Leidenschaft das Finanzministerium, bevor er zwei Jahre später in das von ihm stärker bevorzugte Sozialministerium wechseln konnte. Der Ausstieg aus dem Arztberuf ist dem Gynäkologen nach eigenen Angaben zunächst nicht leicht gefallen. Doch 1991 hat er seine Chefarztposition im Krankenhaus des Paul-Gerhardt-Stifts in Wittenberg endgültig aufgegeben, weil Politik und Arztberuf zeitlich nicht mehr miteinander vereinbar waren. Der engagierte Protestant wird bei der Landtagswahl im nächsten März nicht mehr antreten. Er ist dann 75 Jahre alt.

Böhmer: Ich hatte keine Veranlassung darüber nachzudenken. Ich hatte eine Chefarztstelle und war einigermaßen etabliert. Wir hatten einiges saniert im Krankenhaus. Die ärztliche Versorgung und die Zahl der Mitarbeiter hatte sich stabilisiert.

Ärzte Zeitung: Wann haben Sie beschlossen, sich politisch zu engagieren?

Böhmer: Ich kann nicht einmal sagen, dass ich mich dazu entschlossen habe. Das hat sich so ergeben. Ich wurde gefragt, ob ich für die CDU für den Landtag kandidieren möchte. Ich war damals aus Überzeugung parteilos und habe mich deshalb über die Anfrage etwas gewundert. Andererseits hatte mir die Ost-CDU geholfen, als unser Sohn zwei Jahre zuvor aus politischen Gründen exmatrikuliert wurde.

Die haben erreicht, dass er sich nur ein Jahr in der sozialistischen Produktion bewähren musste und dann wieder studieren durfte. Selbst das war schon ein Erfolg damals. Und die Leute, die mir damals geholfen hatten, meldeten sich plötzlich und fragten, ob ich nicht bei ihnen kandidieren möchte.

Ärzte Zeitung: Ist Ihnen die Entscheidung zur Landtagskandidatur schwer gefallen?

Böhmer: Ich sage ganz freimütig: Aus Unkenntnis darüber, was das bedeutete und welche Arbeit da auf mich zukommen könnte, habe ich zugesagt. Ich war der Meinung, der Landtag sei so etwas wie die Bezirkskammer zu DDR-Zeiten, die tagte einmal im Vierteljahr nachmittags. Dann bin ich gewählt worden und habe nach kurzer Zeit gemerkt: Das ist ganz anders und viel zeitaufwendiger.

Das fand ich nicht mehr richtig lustig. Aber irgendwie ist es mir zunächst gelungen, immer wieder neue Ausreden zu erfinden: Entweder habe ich in der Klinik erzählt, ich müsse dringend nach Magdeburg. Oder ich habe in der Fraktion erzählt, ich habe eine dringende Operation und könne nicht in den Landtag kommen. Für ein halbes Jahr haben die Ausreden gereicht. Dann ging es nicht mehr so weiter.

Wir hatten die erste Regierungsumbildung. Und der neugewählte Ministerpräsident, er kam aus Niedersachsen, hat mir klar gemacht, dass es für die Menschen in Sachsen-Anhalt nicht zumutbar sei, wenn er lauter Minister aus westdeutschen Bundesländern berufe. Er hat ganz klar gesagt: Einige von Euch müssen hier mitmachen, sonst ist die Glaubwürdigkeit der Landesregierung hin. Wir können nicht den Eindruck erwecken, das Land werde fremdbestimmt. Nach einem Gespräch, das vier Stunden gedauert hat, habe ich mich dann bereit erklärt, das Sozialministerium zu übernehmen.

Ärzte Zeitung: Aber dieses Ministerium haben Sie dann doch gar nicht übernommen?

Böhmer: Das ist richtig. Ich wurde Finanzminister. Denn nachdem ich meinen Beurlaubungsvertrag mit der Klinik abgeschlossen hatte, hat mir der Ministerpräsident gesagt: Das mit dem Sozialministerium wird nichts, aber ich habe noch keinen Finanzminister. Das solle ich machen. Da wäre ich zwar am liebsten weinend davon gelaufen, aber ich stand im Wort, und rückblickend muss ich sagen: Es hat mir nicht geschadet. Und ich hoffe auch, dass es dem Land nicht geschadet hat.

Ärzte Zeitung: Lothar de Maizière hat kürzlich gesagt, aus der DDR hätte man mehr übernehmen können als das Ampelmännchen. Hätte man nicht auch Elemente aus dem Gesundheitswesen übernehmen sollen?

Böhmer: Diese Aussage höre ich häufig. Ich halte das für eine glatte Illusion. Die Organisationsstruktur des DDR-Gesundheitswesens war zwar nicht schlecht. Der Grundgedanke von Polikliniken und die Vernetzung von ambulanter und stationärer Behandlung waren mit Sicherheit nicht falsch und haben uns geholfen, die Versorgung unter schwierigen personellen Bedingungen einigermaßen sicherzustellen.

Aber heute würden Sie für eine solche Struktur in Deutschland keine Mehrheit finden. Zwischen den Positionen der Krankenhausgesellschaften, der Klinikärzte sowie der Krankenversicherungen und den niedergelassenen Ärzten klafft doch immer noch ein tiefer Graben, so dass Sie für eine solche Änderung keine Mehrheiten fänden - und die brauchen Sie nun mal in einer Demokratie.

Dieses demokratische Prinzip hätte es ausgeschlossen, dass etwa 60 Millionen Westdeutsche das machen, was 16 Millionen Ostdeutsche - und die auch noch nicht mal einstimmig - besser gefunden hätten. Ich halte diese ganze Diskussion deshalb für realitätsfern. Auch wenn ich persönlich durchaus der Meinung bin, dass es einzelne Dinge gab, die man hätte übernehmen können.

Ärzte Zeitung: Sind Mehrheiten dafür bis heute nicht erkennbar?

Böhmer: Nein, die sind auch heute nicht erkennbar. Und wenn man einer Sache schaden will, dann braucht er nur zu sagen: Damit haben wir in der DDR gute Erfahrungen gemacht. Da gehen bei allen Westdeutschen sofort die Jalousien runter.

Ärzte Zeitung: Gab es für Sie im Gesundheitswesen der DDR Dinge, mit denen Sie besonders gehadert haben?

Böhmer: Gehadert haben wir mit der Ausstattung, mit der Medizintechnik. Wir wussten ja aus Fachzeitschriften, was es alles so gab. Probleme hatten wir auch mit dem Zustand der Gebäude, weil alle Baumittel der Zuteilung unterlagen. Wenn wir Baumaßnahmen durchführen wollten, dann mussten wir versuchen, das Baumaterial selber zu organisieren.

Ich habe in jeder Sprechstunde Patienten, die bei der bäuerlichen Handelsorganisation oder ähnlichen Einrichtungen gearbeitet haben, gefragt, wo es Dachpappe oder Zement oder sonst was gab, damit wir das Nötigste reparieren konnten. Das gehörte zum Alltag eines Arztes dazu.

Ärzte Zeitung: Wenn Sie noch einmal in der gleichen Situation wie vor 20 Jahren wären. Würden Sie dann alles wieder genau so machen, zum Beispiel in die Politik gehen, oder würden Sie einen ganz anderen Weg einschlagen?

Böhmer: Ich habe damals diese Entscheidung aus der Situation heraus getroffen. Unter der Entscheidung, aus dem Beruf rausgegangen zu sein, habe ich etwa zwei Jahre gelitten, dann war das aber vorbei. Man kann ja nicht dauerhaft gedanklichen Erlebnisvarianten nachhängen: Was wäre passiert, wenn Du dieses oder jenes gemacht oder nicht gemacht hättest.

Ärzte Zeitung: Sie haben den Weg in die Politik also nicht bereut?

Böhmer: Nein. Ich habe eine völlig andere Erkenntnis- und Erlebniswelt kennengelernt, die sich mir sonst nicht erschlossen hätte.

Ärzte Zeitung: In einer Umfrage des "Spiegel" haben 25 Prozent der Ostdeutschen angegeben, sie fühlten sich nicht als richtige Bundesbürger. Können Sie das nachvollziehen?

Böhmer: Wir Älteren sind in einem anderen Gesellschaftssystem groß geworden und mussten uns an manches erst gewöhnen, was für uns völlig neu war. Das kann man doch nicht leugnen. Ich habe aber den Eindruck, wenn die Leute sagen, sie fühlten sich immer noch als Ostdeutsche, dass sie damit letztlich zum Ausdruck bringen wollen, dass sie manche Dinge eben anders sehen. Ich weiß auch, dass die Bayern manches anders sehen als die Norddeutschen und die Mecklenburg-Vorpommern manches anders als die Thüringer. Ich halte das für normal.

Ärzte Zeitung: Aber gibt es konkrete Gründe, warum sich viele Ostdeutsche der Bundesrepublik immer noch nicht richtig zugehörig fühlen?

Böhmer: Natürlich, die Verhaltensweisen sind unterschiedlich. Und solche typischen Allensbach-Umfragen: Was ist Ihnen wichtiger, Freiheit oder soziale Sicherheit beantwortet eine Mehrheit in Ostdeutschland eben anders als eine Mehrheit in Westdeutschland. Das hängt mit der unterschiedlichen Sozialisation zusammen. Aber das wird sich auswachsen und ich werde weder den einen noch den anderen ihren Standpunkt vorwerfen.

Ärzte Zeitung: Wenn Sie einen Ausblick auf die nächsten zehn Jahre wagen: Wo könnte Deutschland noch mehr zusammenwachsen, wo hakt es?

Böhmer: Es wird zusammenwachsen. Dafür werden die Menschen selber sorgen, indem sie über die Ländergrenzen hinwegziehen oder heiraten. Da bin ich ziemlich unbesorgt. Aber natürlich haben wir noch Unterschiede beispielsweise beim Grad der Industrialisierung, bei der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, bei der Wirtschafts- und Steuerkraft. Und ich vermute, dass dieser Angleichungsvorgang noch einige Zeit dauern wird.

Von den Chancen auf einen Arbeitsplatz, von der Höhe der Tariflöhne hängt aber durchaus auch die Zufriedenheit der Leute ab. Solange man für die gleiche Arbeit in anderen Gegenden Deutschlands mehr verdient als im Osten, solange leidet man im Osten ein bisschen. Aber ich bin sicher, mit der zunehmenden Angleichung schwindet das Selbstmitleid immer mehr, das man hin und wieder hier noch beobachten kann. Aber ich gebe zu: Diese Angleichung dauert länger, als wir alle erwartet haben.

Ärzte Zeitung: Wie lange?

Böhmer: Ich bin da viel zu vorsichtig. Wenn Sie mich 1990 gefragt hätten, wie lange wir mit unterschiedlichen Tarifgebieten auskommen müssen, hätte ich gesagt: maximal zehn Jahre, sonst gehen die Leute auf die Barrikaden. Jetzt sind es bald 20 Jahre und wir haben es immer noch nicht ganz gepackt. Das ist schon mehr als eine psychische Strapazierung der Betroffenen.

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