Freiheit - aufgesaugt wie ein Schwamm

Der Grünen-Abgeordnete und Arzt Dr. Harald Terpe wollte im Herbst 1989 nicht mehr zusehen, wie immer mehr Menschen das Land verließen. Er engagierte sich in der Bürgerbewegung. Die Einheit, ist er sich sicher, hat "einen geschichtlichen Anachronismus geradegerückt".

Veröffentlicht:
"Wir haben 1989/90 die Obrigkeits- und Hierarchie-Gläubigkeit abgelegt." (Dr. Harald Terpe)

"Wir haben 1989/90 die Obrigkeits- und Hierarchie-Gläubigkeit abgelegt." (Dr. Harald Terpe)

© Bündnis 90/Die Grünen

Ärzte Zeitung: Wie sieht ihre persönliche Bilanz nach 20 Jahren Deutscher Einheit aus?

Dr. Harald Terpe: Die Wende und die Einheit waren gut und richtig - vor allem war es richtig, dass der Prozess schnell vonstatten gegangen ist. Ich hatte ein Schlüsselerlebnis, als ich ein Radiointerview mit dem später ermordeten Deutsche Bank-Manager Alfred Herrhausen hörte.

Er plädierte darin aus ökonomischen Gründen für einen langsamen Prozess der Einigung. Da wurde mir klar, dass eine Separierung zwischen einer ökonomischen und - später dann - einer sozialen Einheit nicht möglich ist.

Ärzte Zeitung: Die schnelle Einigung war bei den Mitgliedern gerade des Neuen Forums, dem sie angehörten, sehr umstritten…

Terpe: Das ist richtig. Ich war als Rostocker im damaligen Sprecherrat des Neuen Forums, der sich aus den 15 Bezirken der damaligen DDR zusammensetzte. Dort waren die Befürworter einer schnellen Einigung in der klaren Minderheit.

Ärzte Zeitung: Sie haben 1982 ihr Medizin-Studium an der Universität Rostock abgeschlossen und sich dann zum Facharzt für Pathologie weiterbilden lassen - wie kam es zu dieser Wahl?

Terpe: Meine Frau und ich haben uns als Ärzte zum Glück beide mit unseren Berufswünschen durchsetzen können. Das war überhaupt nicht absehbar, weil man als DDR-Bürger sehr frühzeitig vom Staat verplant wurde. So war es auch bei uns etwa nach dem 4. Jahr im Medizinstudium.

Damals kursierten Listen, auf denen man seine Wünsche für die Facharzt-Weiterbildung angeben sollte. Ich habe dort aus Trotz immer Wünsche genannt, von denen klar war, dass sie kaum erfüllt werden.

Beispielsweise waren die Fächer Innere Medizin oder Pädiatrie fast nie erreichbar, wenn man nicht seine "besondere Staatstreue" bewiesen hatte oder aber Beziehungen über Eltern vorweisen konnte. So geschah es denn auch. Am Ende des Studiums kam ich in die so genannte "Facharzt-Lenkung" und habe mich für die Pathologie entschieden - dieser Wunsch wurde mir erfüllt.

Ärzte Zeitung: Wie haben Sie Ende der 80er Jahre ihre berufliche Situation und den Zustand des Gesundheitswesens erlebt?

Zur Person

Dr. Harald Terpe

Harald Terpe, 1954 in Greifswald geboren, ist Arzt und Bundestagsabgeordneter der Grünen. Seit 1989 gehörte Terpe der Bürgerbewegung Neues Forum an und war im Wendeherbst Mitglied im DDR-weiten Republiksprecherrat. Bis 1994 gehörte er als Fraktionssprecher für Bündnis 90 der Bürgerschaft Rostock an, seit 1999 war Terpe auch Präsidiumsmitglied. Er ist seit 2005 Bundestags-Abgeordneter, seit November 2006 ist er Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. In der laufenden Legislatur ist Terpe Sprecher für Drogen- und Suchtpolitik seiner Fraktion. Er hat in Rostock Medizin studiert und schloss 1987 seine Weiterbildung zum Facharzt für Pathologie ab. Seit 1998 ist Terpe Oberarzt am Institut für Pathologie der Universität Rostock.

Terpe: Da Pathologie ein Querschnittsfach ist, kannte ich Gott und die Welt am Universitätsklinikum. Entsprechend habe ich auch mitbekommen, wo es überall klemmt. Selbst in großen Kliniken wie in Rostock gab es Engpässe. Um das Jahr 1988 herum konnten - an der Kinderklinik! - keine Beatmungsgeräte für Kinder mehr angeschafft werden. Diese Dinge wurden immer intensiver unter den Kollegen diskutiert.

Ärzte Zeitung: Wann wurden die Diskussionen im engeren Sinne politisch?

Terpe: Für viele Menschen haben die manipulierten Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 die Entfremdung vom Staat vorangetrieben. Dass Wahlen in der DDR gefälscht wurden, wussten alle. Bei den Kommunalwahlen haben sich viele Bürger aber erstmals die Mühe gemacht, die Fälschung konkret nachzuweisen.

Für mich kam der eigentliche Punkt der Politisierung erst im Sommer 1989. Meine Frau und ich haben uns gefragt, wie lange wir es in der DDR noch aushalten wollen, als immer mehr Freunde das Land verließen. Da fiel unser Entschluss, dass sich etwas ändern musste.

Ich habe mich ab Frühherbst 1989 in Unterschriftenlisten des Neuen Forums eingetragen. Das geschah auch aus der Überlegung heraus, dass Ärzte sehr selten mit Berufsverbot belegt wurden. Meine Frau hätte also notfalls die Familie durchbringen können.

Ärzte Zeitung: Waren Sie bei den Runden Tischen aktiv und haben Sie dort Ihre unmittelbare Berufserfahrung einbringen können?

Terpe: Ja, ich war auf Bezirksebene in Rostock als Vertreter des Neuen Forums aktiv. Thematisch ist es dort kaum um Gesundheitspolitik gegangen, sondern primär um die Überwindung der DDR-Diktatur. Wie gehen wir mit der Staatsicherheit um? Wie garantieren wir einen Pluralismus der Presse?

Ärzte Zeitung: Mit dem Einigungsvertrag im August 1990 waren die Strukturen des neuen Gesundheitssystems großen Teils schon festgezurrt. Welche Elemente des früheren Gesundheitswesens wären aus Ihrer Sicht erhaltenswert gewesen oder hätten weiterentwickelt werden können?

Terpe: Nach der Volkskammerwahl am 18. März wurden die Runden Tische immer stärker in die Defensive gedrängt. Immerhin haben wir in Rostock den Oberbürgermeister verjagen und einen neuen Bürgermeister - einen Vertreter des Neuen Forums - einsetzen können.

Auf kommunaler Ebene standen gesundheitspolitische Themen natürlich auf der Agenda. Ganz wesentlich war etwa die Frage, was aus den Polikliniken werden soll. In den Polikliniken funktionierte der fachliche Austausch zwischen den Ärzten verschiedener Fachgebiete sehr gut. Viele Kollegen hätten sich nie und nimmer niedergelassen, wenn die Polikliniken nicht durch die Macht des Faktischen verdrängt worden wären.

Ärzte Zeitung: Inwieweit prägen Ihre Erfahrungen vor und während der Wendezeit Ihr politisches Handeln bis heute?

Terpe: Wir haben 1989/90 die Obrigkeits- und Hierarchie-Gläubigkeit abgelegt. Ich erlebe dieses Phänomen heute eher noch bei westdeutschen Kollegen als im Osten. Das mag damit zusammenhängen, dass es in den alten Bundesländern seit 60 Jahren keinen Systembruch mehr gegeben hat.

Ich habe dagegen erlebt, wie staatliche Strukturen, von denen man dachte, dass sie ewig gelten, binnen Wochen zerbrochen sind. Dieses Erlebnis hat mich geprägt. Ich habe die neue Freiheit aufgesogen wie ein Schwamm. Die Einheit hat einen geschichtlichen Anachronismus geradegerückt. Um so wichtiger war es für mich, dass die Einheit Deutschlands seit den 90er Jahren mit einem europäischen Einigungsprozess einhergegangen ist. Die Mauern sind gefallen - nach Westen wie nach Osten.

Die Fragen stellte Florian Staeck.

Alle Artikel des Specials "20 Jahre Deutsche Einheit" finden Sie auf unserer Sonderseite

Schlagworte:
Mehr zum Thema

Kommentar

Regresse: Schritt in die richtige Richtung

Bürokratieabbau in der Praxis

Kinderärzte fordern Abschaffung der Kinderkrankschreibung

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Ambulantisierung

90 zusätzliche OPS-Codes für Hybrid-DRG vereinbart

Doppel-Interview

BVKJ-Spitze Hubmann und Radau: „Erst einmal die Kinder-AU abschaffen!“

Lesetipps
Der Patient wird auf eine C287Y-Mutation im HFE-Gen untersucht. Das Ergebnis, eine homozygote Mutation, bestätigt die Verdachtsdiagnose: Der Patient leidet an einer Hämochromatose.

© hh5800 / Getty Images / iStock

Häufige Erbkrankheit übersehen

Bei dieser „rheumatoiden Arthritis“ mussten DMARD versagen