Interview

"Wir sind keine Sparkasse"

Vom Versorgungsgesetz hält er kaum etwas, der schwarz-gelben Koalition wirft er Restauration vor: Der neue baden-württembergische AOK-Chef Dr. Christopher Hermann spricht im Interview über "Nippes-Wettbewerb", Baustellen und Sparkassen.

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AOK-Chef Dr. Christopher Hermann (mitte) im Gespräch mit Florian Staeck (li.) und Wolfgang van den Bergh.

AOK-Chef Dr. Christopher Hermann (mitte) im Gespräch mit Florian Staeck (li.) und Wolfgang van den Bergh.

© Holger Pressel

Ärzte Zeitung: Wo steht die AOK Baden-Württemberg heute? Was zeichnet sie aus, was andere Kassen nicht vorweisen können?

Dr. Christopher Hermann

Aktuelle Position: Vorstandsvorsitzender AOK Baden-Württemberg seit 1. Oktober 2011.

Werdegang/Ausbildung: Studium der Geschichts-, Politik- und Rechtswissenschaften in Marburg und Berlin.

Karriere: Arbeit im Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags, im NRW-Sozialministerium, seit 2000 bei der AOK.

Dr. Christopher Hermann: Wir stehen in diesem Jahr sehr gut da. Das zeigt sich auch an der Entwicklung der Mitglieder- und Versichertenzahlen. Am Ende dieses Jahres werden wir etwa 60.000 Mitglieder mehr haben als Anfang 2011.

Damit bleiben wir unangefochten Marktführer in Baden-Württemberg. Wir verstehen uns als Versorgerkasse, die ihre rechtlichen Handlungsmöglichkeiten bis an den Anschlag ausnutzt, um ihren Versicherten eine gute Prävention und Versorgung zu bieten.

Ärzte Zeitung: Was bedeutet das für das Finanzergebnis in diesem Jahr?

Hermann: Wir erwarten 2011 einen Überschuss von etwa 140 Millionen Euro. Präzisere Zahlen liegen Ende November vor, unter anderem, weil dann erst der Schlussausgleich 2010 bekannt ist.

Ärzte Zeitung: Können Sie etwas zur Entwicklung bei den wichtigsten Ausgabenposten sagen?

Hermann: Im stationären Sektor gehen wir in diesem Jahr von einem Ausgabenplus von etwa vier Prozent aus. Das haben wir auch so erwartet. Bei den Vertragsärzten wird es vermutlich einen Anstieg von vier bis fünf Prozent geben.

Deutlich über Plan liegen wir bei den Krankengeld-Ausgaben. Das ist sicherlich auch ein Resultat der günstigeren Arbeitsmarktsituation. Außerdem haben wir deutlich mehr Mitglieder, die Krankengeld-berechtigt sind.

Erfreulich ist die Entwicklung bei den Arzneimittelausgaben. Vor allem den Rabattverträgen ist es zu verdanken, dass am Ende des Jahres ein Minus im hohen einstelligen Bereich stehen wird.

Ärzte Zeitung: Andere Kassen werben mit dem Spruch: "Garantiert kein Zusatzbeitrag bis 2013". Wie hält es die AOK Baden-Württemberg mit derartigen Ankündigungen?

Hermann: Wir bleiben solide. Auch 2012 werden wir garantiert keinen Zusatzbeitrag erheben, wenn das Versorgungsstruktur-Gesetz keine ausufernden Geschenke für Leistungserbringer mit sich bringt, die gegenwärtig niemand genau kalkulieren kann.

Nicht zuletzt deshalb wundern mich die aktuellen offensiven Ankündigungen mancher Vorstandskollegen in anderen Kassen.

Ärzte Zeitung: Stichwort Versorgungsgesetz. Ihre Kritik am Entwurf fällt vernichtend aus. Ist das ganze Gesetz nur ein Placebo?

Hermann: Nicht ganz. Natürlich wird das Gesetz dazu führen, dass wir bei der Bedarfsplanung in Baden-Württemberg weniger planerisch ausgewiesene Überversorgung haben werden als bisher. Nur: Ich bezweifele, dass wir mit Blick auf die steigende Morbidität auch nur einen Arzt mehr für die Versorgung bekommen.

Ärzte Zeitung: In der Regierungskoalition haben sich Fraktionen versammelt, die stets die Fahne von Wettbewerb und Ordnungspolitik hochgehalten haben. Was findet sich davon im Gesetzentwurf?

Hermann: Uns wird einzig ein reiner Nippes-Wettbewerb zugebilligt, wo es um einen Euro mehr oder weniger Zuzahlung für diese oder jene Leistung geht.

Mit Blick auf ein Mehr an Versorgungs- und Qualitätswettbewerb zwischen den Krankenkassen findet sich im Gesetz nichts. Im Gegenteil: Krankenkassen werden wieder in die Rolle des reinen Zahlmeisters zurückgedrängt.

Ich habe in vielen Gesprächen mit Politikern der Koalition die Botschaft erhalten, dass dort Selektivverträge schlicht keine Rolle mehr spielen. Stattdessen setzt man auf eine Restauration des Alt-Systems. Karl Jung lässt grüßen.

Ärzte Zeitung: Sie haben das Modellvorhaben zur Arzneiversorgung, das die ABDA/KBV-Vorschläge aufgreift, als Angriff auf die Rabattverträge kritisiert. Wären diese als Sparinstrument wirklich gefährdet?

Hermann: Ich finde es schon bemerkenswert, dass die Bundesregierung das einzige wettbewerbliche Instrument im Arzneimittelmarkt - die Rabattverträge - als Problemfall darstellt.

Das ist der Versuch, wettbewerbliche Strukturen, die in den vergangenen Jahren etabliert wurden, wieder abzuwickeln. Besonders irritiert mich, dass Teile der Ärzteschaft bereit sind, offiziell die Verantwortung für die Pharmakotherapie an die Apotheker abzutreten.

Ich habe große Probleme, mir die Apotheker als Oberaufseher über die Pharmakotherapie von multimorbiden Patienten vorzustellen. Hinzu kommt, dass Datenschutzfragen noch nicht einmal andiskutiert worden sind.

Ärzte Zeitung: Während die Koalition am Versorgungsgesetz noch baut, ist in Baden-Württemberg der dritte Selektivvertrag der AOK für Neurologen und Psychotherapeuten an den Start gegangen. Kritiker sagen: Die schnellere Erstversorgung psychisch Kranker hätte man auch im Kollektivvertrag regeln können….

Hermann: Diese Kritik ist wohlfeil. Die langen Wartezeiten sind doch hinreichend bekannt, das Problem ist im Kollektivvertrag nur nicht aufgegriffen worden. Deshalb haben sich Ärzte- und Psychotherapeutenverbände mit der AOK zusammengesetzt, um eine strukturierte Versorgung zu etablieren.

Ärzte Zeitung: Je mehr Facharztverträge es gibt, desto wichtiger wird ihre Verknüpfung mit dem Hausarztvertrag. Wie gut klappt die Kooperation der Arztgruppen?

Hermann: Wenn ich behauptete, bei der systematischen Zusammenarbeit läuft alles glatt, dann würde ich ein Thema kleinreden. Die Kooperation muss besser werden, das ist ein ganz dickes Brett.

Mit dem Vertrag für Neurologen und Psychotherapeuten stellt sich die Frage in noch größerer Dringlichkeit, denn die Kooperation zwischen Hausärzten und Psychotherapeuten ist weitgehend bisher ein Brachland. Bei der wissenschaftlichen Evaluation der Verträge wird das Funktionieren der Kooperation ein zentrales Thema sein.

Ärzte Zeitung: Ist bei Politikern ein Verständnis dafür da, in welchem Umfang die Versorgung in Baden-Württemberg neu organisiert wird?

Hermann: Die häufigste Frage von Politikern lautet: Wie viel Geld spart ihr denn? Wir sind aber keine Sparkasse, sondern eine Gesundheitskasse.

Selbstverständlich muss die AOK Baden-Württemberg die ökonomischen Zwänge beachten. Wir möchten aber nicht primär weniger ausgeben, sondern das Geld vernünftiger einsetzen, indem wir gemeinsam mit unseren Partnern sinnvolle Versorgungspfade definieren.

Ärzte Zeitung: Haben Sie den Eindruck, dass dieser Weg von Kollegen in den Führungsetagen der AOK-Schwesterkassen verstanden wird?

Hermann: Wir haben in Baden-Württemberg eine starke Stellung im Markt, manch‘ andere AOK ist mit einer schwierigeren Situation konfrontiert. Die Ausgangslage, inwieweit eine AOK Versorgung vor Ort gestalten kann, ist von Fall zu Fall unterschiedlich.

Auch gibt es nicht überall bei den freien Ärzteverbänden innovative Köpfe wie das in Baden-Württemberg der Fall ist. Wir kämpfen weiter für unseren Weg, ich fühle im AOK-Bundesverband keinen Gegenwind.

Ärzte Zeitung: Der AOK Bundesverband und die KV-Telematik-ARGE entwickeln eine IT-Schnittstelle für Selektivverträge (gevko). Das hat zu einem offenen Konflikt zwischen Medi auf der einen Seite und der KBV und AOK auf der anderen Seite geführt, vom "Kassentrojaner" war die Rede. Belastet dies das an sich gute Verhältnis zwischen Ihrer Kasse und den Ärzten vor Ort?

Hermann: Die AOK Baden-Württemberg ist nicht Mitglied der gevko, wir gehen im Südwesten mit unseren Partnern einen anderen Weg. Ich kann mir auf Dauer bezogen auf die gevko nicht vorstellen, dass es hier künftig eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der KBV geben kann, da die KBV ganz eindeutig Eigeninteressen verfolgt.

Ärzte Zeitung: Wenig harmonisch ist es in den letzten Jahren auch zwischen der Spitze der AOK Baden-Württemberg und der Landes-KV zugegangen. Seit Januar hat die KV einen neuen Vorstand. Und jetzt?

Hermann: Wir haben seit Jahresbeginn eine völlig andere Situation. Der neue KV-Vorstand hat von Anfang an deutlich gemacht, dass er auf ein gedeihliches Verhältnis von Kollektiv- und Selektivverträgen setzt. Der alte Vorstand hat mit allen Tricks versucht, die Selektivverträge über die Bereinigungsregelung zu sabotieren. Das ist zum Glück vorbei.

Die Fragen stellten Wolfgang van den Bergh und Florian Staeck.

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