28 Milliarden Euro

Die hohen GKV-Reserven täuschen

Die hohen Finanzreserven des GKV-Systems verdecken den Rückstand bei Investitionen in den ärztlichen Nachwuchs und die Infrastruktur. Die Kostenschätzungen für geplante Reformen sind höchst unvollständig.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Die hohen GKV-Reserven täuschen.

Die hohen GKV-Reserven täuschen.

© Jürgen Fälchle / fotolia.com

BERLIN. So viel ist richtig: Auch wenn die Finanzreserven im GKV-System im vergangenen Jahr um 2,3 Milliarden Euro geschmolzen sind, hat Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe recht, wenn er bei der Vorlage der Finanzdaten für 2014 konstatiert: "Die gesetzliche Krankenversicherung steht auf einer soliden Grundlage."

Zumal sich der Rückgang der Reserven auf 28 Milliarden Euro durch Sondereffekte erklären lässt: Beim Gesundheitsfonds ist der Bundeszuschuss um 3,5 auf 10,4 Milliarden Euro gesenkt worden.

Die Krankenkassen, insbesondere einzelne Ersatzkassen, haben 711 Millionen Euro als Prämien an ihre Versicherten ausgeschüttet, ferner sind die Aufwendungen für zusätzliche freiwillige Satzungsleistungen um 313 Millionen Euro gestiegen.

Bei Arzneimitteln ohne Festbetrag ist der gesetzliche Rabatt von 16 auf sechs, ab dem 1. April auf sieben Prozent zurückgefahren worden.

Dies erklärt einen Gutteil des zunächst hoch erscheinenden Ausgabenzuwachses bei Arzneien von neun Prozent (wir berichteten).

Aus der Perspektive eines Buchhalters erscheint das Gesundheitswesen derzeit so solide wie selten zuvor.

Doch die Buchhaltung bildet die Vergangenheit ab - einen vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2009 üppig bemessenen Gesundheitsfonds und eine Phase, in der Krankenkassen in ihrer Leistungs- und Ausgabenpolitik zu allererst darauf bedacht waren, die sogenannte Kopfpauschale zu vermeiden. Das ist Bilanzoptik und nur ein Teil der Wahrheit.

Schräge Kalkulation

Zusätzliche Wahrheiten offenbaren die gesundheitspolitischen Reformprojekte der großen Koalition. Eines der wichtigsten davon ist das am Donnerstag in erster Lesung im Bundestag beratene Versorgungsstärkungs-Gesetz.

Dieses Gesetz wurde notwendig, weil sich das vor gut drei Jahren in Kraft getretene Vorgänger-Projekt als Placebo aus der FDP-Apotheke erwiesen hat.

Die bittere Diagnose ist: In den vergangenen Jahren wurde es versäumt, insbesondere in den allgemeinmedizinischen Nachwuchs zu investieren.

Die Basisversorgung einer älter werdenden, multimorbiden Gesellschaft bröckelt und bekommt Lücken. Der Gesundheits-Sachverständigenrat sieht einen Ersatzbedarf von rund 3000 Allgemeinärzten jährlich.

Auch diese Koalition schreibt sich die Wirklichkeit schön: Mindestens 7500 allgemeinmedizinische Weiterbildungsstellen sollen nun gefördert werden; das ist ein Fortschritt. Um die Forderung des Sachverständigenrates zu erfüllen, müssten aber 15.000 Stellen gefördert werden, und zwar Vollzeit.

Derzeit würden ambulant 5000 Weiterbildungsstellen gefördert, heißt es im Gesetzentwurf. Laut Evaluationsbericht für 2013 waren es tatsächlich 4299 Stellen - aber nur 2488 Vollzeitäquivalente. 104 Millionen Euro wurden dafür aufgewendet, 50 Prozent davon von den Kassen.

Die Gesundheitspolitiker der Koalition sind bislang unpräzise: Sind mit den mindestens 7500 zu fördernden Stellen auch Teilzeitjobs gemeint oder Vollzeitäquivalente?

Das ist von entscheidender Bedeutung, denn je höher der Anteil der Teilzeit-Beschäftigten, desto länger die Weiterbildung, desto später die Facharzt-Anerkennung, desto weniger Nachwuchs.

Und die finanziellen Auswirkungen? Bei 7500 geförderten Vollzeit-Weiterbildungsstellen, für die die Tarifbedingungen in Kliniken angewendet werden sollen, müssten mindestens 450 Millionen Euro aufgewendet werden, also 350 Millionen Euro zusätzlich. Im Gesetzentwurf ist die Rede von 25 bis 30 Millionen Euro - eine schräge Kalkulation.

Die Nullkosten-Illusion

Ebenfalls offen lässt der Gesetzgeber die Mehrausgaben, die durch den Abbau von Vergütungsunterschieden zwischen den KVen ab 2017 entstehen. Die betroffenen KVen sehen sich mit mehreren hundert Millionen Euro im Rückstand.

Eingepreist ist das im Gesetz nicht. Ebenfalls nicht quantifiziert: Mehrleistungen und Mehrausgaben durch Anspruch auf ärztliche Zweitmeinung.

Ebenso unbestimmt bleiben auch die Finanzwirkungen des E-Health-Gesetzes. Die telemedizinisch-konsiliarische Befundung von Röntgenaufnahmen (warum nur diese?) als neue Leistung gilt der Regierung als "nicht quantifizierbar".

Genauso die Erstellung des elektronischen Notfalldatensatzes und die Förderung telemedizinischer Leistungen in der ambulanten Versorgung. Man gewinnt den Eindruck, der Aufbau einer telemedizinischen Infrastruktur und deren konkrete Leistung sei fast zum Nulltarif zu haben. Das ist eine Illusion.

Buchhalterisch steht das deutsche Gesundheitswesen glänzend da, nicht zuletzt, weil in der Vergangenheit an Investitionen gespart worden ist. Nun mangelt es an Nachhaltigkeit. Was die Aufholjagd kostet, möchte niemand offen sagen.

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