IM GESPRÄCH

Vom Recht auf Leben und auf Sterben - wie der Bundestag den Patientenwillen buchstabiert

Von Bülent Erdogan Veröffentlicht:
Im Fokus des Interesses: Der Initiator des Gesetzesantrags zu Patientenverfügungen, Joachim Stünker (SPD).

Im Fokus des Interesses: Der Initiator des Gesetzesantrags zu Patientenverfügungen, Joachim Stünker (SPD).

© Foto: dpa

Am Vorabend haben sie noch die Fanmeile am Brandenburger Tor besucht und den EM-Halbfinalsieg der Deutschen bejubelt - jetzt sitzen sie auf der Besuchertribüne des Reichstags und lauschen den rund 80 Parlamentariern zum Thema Patientenverfügung. Krasser könnte der Gegensatz für die Schüler der Stufe 11a des Heinrich-Suso-Gymnasiums aus Konstanz der Gegensatz bei ihrem Berlinbesuch kaum sein.

Da passt es, dass sich nach zähem Debattenbeginn mit dem Auftritt der CDU-Abgeordneten Julia Klöckner auch im Plenum das Klima schlagartig ändert. Zur Diskussion steht ein interfraktioneller Gesetzesentwurf von rund 200 Abgeordneten um den Rechtspolitiker Joachim Stünker (SPD).

Dieser sieht vor, dass eine schriftliche Patientenverfügung für den behandelnden Arzt sowie Angehörige und Betreuer grundsätzlich verbindliche Wirkung hat. Damit wollen die Parlamentarier dem Selbstbestimmungsrecht auch dann zur Geltung verhelfen, wenn der Patient nicht mehr selbst über eine medizinische Maßnahme entscheiden kann.

Stünker-Entwurf betont das Selbstbestimmungsrecht

Allerdings sollen Arzt und Betreuer die Verfügung darauf abklopfen, ob sie auf die aktuelle Behandlungssituation zutreffen. Sind sie sich nicht einig, soll ein Vormundschaftsgericht über den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen entscheiden. Zudem soll jeder Bürger seine Verfügung formlos widerrufen können und sie in regelmäßigen Abständen erneuern müssen.

Die Bürger hätten ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht, dass ihr Wille beachtet werde, so Stünker. Einer seiner Mitstreiter, der FDP-Mann Michael Kauch, führt aus, dass es nicht so weiter gehen dürfe, dass Patienten gegen ihren Willen Magensonden eingeführt werden. Für einen Teil der Grünen-Fraktion warnt Birgitt Bender vor der Gefahr der "Zwangsbehandlung" von Menschen, wenn deren Wille nicht beachtet werde.

Wie stark soll die Rolle des Arztes sein? Das ist strittig.

Vielen Abgeordneten des Bundestags quer durch alle Fraktionen gehen diese Pläne jedoch entschieden zu weit. So warnt der CDU-Abgeordnete Markus Grübel, die Bürger könnten sich um Kopf und Kragen verfügen: "Ein falsches Kreuz bei einer Multiple-Choice-Patientenverfügung, und schon ist es geschehen", sagt er. Verfügungen ohne Begrenzung ihrer Geltung auf tödlich verlaufende Krankheiten seien eine "scharfe Waffe, die der Patient gegen sich richtet."

Kurz darauf hat Klöckner ihren Auftritt. Sie erzählt von einer alten Dame. "Ich möchte nie an Schläuchen hängen und nie eine PEG-Sonde bekommen", habe diese in ihrer Patientenverfügung festgehalten, so Klöckner. Die 70-Jährige habe aber nicht gewusst, dass eine Magensonde auch vorübergehend gelegt werden könne, um notwendige Medikamente zu geben, oder dass man auch bei einer einfachen Blinddarmoperation durchaus am Schlauch hängen könne. Aufgeschreckt habe die Dame die Verfügung anschließend zerrissen, hält Klöckner den Befürwortern einer bindenden Regelung vor.

Beim Abgeordneten Stünker, der sich als erster Debattenredner merklich zurückgehalten hat, stößt Klöckners Darstellung auf Empörung. Umso mehr, als Klöckner dem SPD-Mann noch ein Zitat vorhält, nach der dieser es als "Pech" bezeichnet haben soll, wenn ein Patient sich mit einer ungenauen Verfügung in Gefahr bringe.

Klöckners Ausführungen sind der Höhepunkt einer Debatte, in der die Abgeordneten noch einige weitere Reizpunkte setzen, die aber alles in allem im Rahmen bleibt. Das liegt auch daran, dass es in der Union und bei weiteren Gegnern des Stünker-Entwurfs unterschiedliche Vorstellungen über eine gesetzliche Regelung gibt: So loten derzeit zwei Gruppen um die Abgeordneten Wolfgang Bosbach sowie Hans Georg Faust (beide CDU) und Wolfgang Zöller (CSU) mit Abgeordneten der Grünen um Katrin Göring-Eckardt und Harald Terpe Möglichkeiten eines gemeinsamen Gesetzesantrags aus.

Während Bosbach auf eine Begrenzung der Geltung von Verfügungen auf tödliche Krankheitsverläufe setzt, plädieren die Abgeordneten Faust und Zöller für eine starke Rolle des behandelnden Arztes.

Union und Grüne suchen nach gemeinsamer Lösung

Göring-Eckardt wendet sich gegen eine Reichweitenbegrenzung, will dafür aber dem Bevollmächtigten des Patienten eine größere Rolle einräumen. Zum Schluss der Debatte bleibt es Faust vorbehalten, auf den Koalitionspartner zuzugehen. Demonstrativ spricht der Mediziner Stünker seinen Respekt dafür aus, mit dem Antrag offen Position bezogen zu haben. Er hofft auf einen Kompromiss.

Spannend sei es gewesen, sagt eine Konstanzer Schülerin im Anschluss an die Debatte. Die Gymnasiasten bleiben noch eine Weile sitzen. Im Anschluss berät der Bundestag ein weiteres wichtiges Thema: die Rente.

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