Ethikrat hält Babyklappen für verfehlt

Babyklappen und anonyme Geburt helfen nicht bei dem alles überragenden Ziel, das Leben eines Neugeborenen zu retten. In scharfen Worten fordert der Deutsche Ethikrat, diese aus seiner Sicht fragwürdige Praxis zu beenden.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Auslaufmodell für den Ethikrat: Landesbischöfin Margot Käßmann bei der Eröffnung einer Babyklappe im August 2008 in Hannover.

Auslaufmodell für den Ethikrat: Landesbischöfin Margot Käßmann bei der Eröffnung einer Babyklappe im August 2008 in Hannover.

© Foto: dpa

Der Deutsche Ethikrat hat sich für seine erste Stellungnahme ein altes Thema gewählt: Denn Kindesaussetzung oder -tötung gibt es seit Beginn der menschlichen Geschichte. Und doch sorgt die Debatte, was der beste Weg ist, um die Aussetzung oder Tötung eines Neugeborenen zu verhindern, immer wieder für Streit.

Mit seiner am Donnerstag vorgestellten Expertise empfiehlt der Ethikrat dem Gesetzgeber eine Kehrwende: Danach sollten alle Angebote für die anonyme Kindesabgabe oder Geburt aufgegeben werden. Als Alternativen rät das Gremium zum einen, die vorhandenen Hilfsangebote freier Träger oder staatlicher Stellen der der Kinder- und Jugendhilfe bekannter zu machen.

Nur die Beratungsstelle soll die Personendaten kennen

Zum anderen sollte gesetzlich geregelt werden, dass eine Frau, die ihre Mutterschaft verbergen will - für die Dauer eines Jahres - die Daten des Kindes nur einer staatlich anerkannten Beratungsstelle anzeigen darf. Diese dürfen dann in dieser Frist nicht an das Standesamt weitergegeben werden. Dieses Gesetz über eine "vertrauliche Kindesabgabe mit vorübergehend anonymer Meldung" soll Zeit schaffen für die Beratung und Begleitung der Mutter. Nur wenn die Frau ihr Kind zur Adoption freigeben möchte, müssen die Daten der Vermittlungsstelle weitergegeben werden, so der Vorschlag des Rats.

Sechs der 26 Ratsmitglieder tragen diese Kernbotschaft der Stellungnahme aber nicht mit: Sie sind gegen die Schließung der Babyklappen, weil sie diese Einrichtungen für einen kleinen Kreis von Frauen als den letzten Ausweg sehen, um ihr Kind nicht unversorgt auszusetzen.

Im vergangenen Jahr hatte der Ethikrat bei einer Anhörung überwiegend kritische Stimmen zu Babyklappen und anonymer Geburt gehört: So äußerte Professor Anke Rohde von der Abteilung Gynäkologische Psychosomatik an der Universitätsfrauenklinik Bonn erhebliche Zweifel, ob Frauen, die ihre neugeborenen Kinder töten oder aussetzen, überhaupt von Angeboten anonymer Kindesabgabe erreicht werden. Die Frauen, die einen Neonatizid erwägen, zeigten "praktisch immer Defizite bei Problemlösestrategien sowie Kommunikationsdefizite". Eine Ausgangslage, die mit der zielgerichteten Abgabe eines Kindes in einer Babyklappe nicht vereinbar sei. In der Konsequenz, so Rohde, würden Fälle von Kindstötung durch diese Angebote nicht reduziert.

Ähnlich skeptisch war der Tenor von Experten bei der anonymen Geburt: Diese verhindert nach Ansicht von Dr. Joachim Neuerburg vom St. Anna Hospital in Herne keine Kindesaussetzungen oder -tötungen, sondern schaffe "in Deutschland jährlich etwa 100 neue ‚Findelkinder‘". Der Ethikrat kommt zum Fazit, kein Fall sei bekannt geworden, bei dem deutlich wurde, "dass die Mutter ihr Kind getötet hätte, wenn es die Möglichkeit der anonymen Kindesabgabe nicht gegeben hätte".

Im Gegenteil: Bei der Babyklappe haben Mutter und Kind die Geburt überstanden: "Ein Anlass zur Lebenshilfe in der Not unter Inkaufnahme der Anonymität besteht nicht". Wer nicht weiß, wer seine Mutter oder Vater ist, habe es ungemein schwerer als andere Menschen, "Identität und Selbstbewusstsein auszubilden", kritisiert der Ethikrat die geltende Praxis. Jeder Mensch brauche "einen Ausgangspunkt für die eigene Geschichte", doch einem Kind werde "durch das Entschwinden der Eltern in die Anonymität schwerer Schaden zugefügt". Zwar sei die Adoption eine "wertvolle Institution". Doch sollte keine Gesellschaft "es von vornherein darauf anlegen, dass sie benötigt wird", fordert der Ethikrat.

Lebensrettung durch Babyklappen ist nicht belegt

Babyklappen haben eine lange Vorgeschichte: Papst Innozenz III ließ im Jahr 1198 in Rom am Ospedale di St. Spirito die erste Drehlade einrichten. Rund 800 Jahre später wurde im April 2000 im Sternipark in Hamburg die erste Babyklappe eröffnet. Inzwischen gibt es 80 Babyklappen bundesweit, in etwa 130 Kliniken ist eine anonyme Geburt möglich.

Genaue Zahlen darüber, wie viele Kinder seit Einführung von Babyklappen anonym abgegeben wurden, liegen nicht vor. Als Grund gilt, dass die Anbieter dieser Einrichtungen nicht bereit sind, genaue Zahlen zu nennen. Schätzungen zufolge sind in den vergangenen knapp zehn Jahren 300 bis 500 Kinder zu Findelkindern mit dauerhaft anonymer Herkunft geworden.

In keiner Region Deutschlands lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Babyklappen und dem Angebot zur anonymen Geburt sowie der Zahl ausgesetzter oder getöteter Kinder herstellen. (fst)

Schlagworte:
Mehr zum Thema

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

NHANES-Analyse

Bei Hörminderung: Hörgeräteträger leben länger

Hauptstadtdiabetologinnen

Ein Netzwerk für Diabetologinnen

Lesetipps
Neue Hoffnung für Patienten mit Glioblastom: In zwei Pilotstudien mit zwei unterschiedlichen CAR-T-Zelltherapien blieb die Erkrankung bei einigen Patienten über mehrere Monate hinweg stabil. (Symbolbild)

© Richman Photo / stock.adobe.com

Stabile Erkrankung über sechs Monate

Erste Erfolge mit CAR-T-Zelltherapien gegen Glioblastom

Die Empfehlungen zur Erstlinientherapie eines Pankreaskarzinoms wurden um den Wirkstoff NALIRIFOX erweitert.

© Jo Panuwat D / stock.adobe.com

Umstellung auf Living Guideline

S3-Leitlinie zu Pankreaskrebs aktualisiert