Zukunft der Medizin

Ist Priorisierung unmoralisch?

Rationierung und Priorisierung - droht Deutschland eine inhumane Gesundheitsversorgung? Experten sehen vor allem in der Priorisierung vielmehr eine Chance. Das Problem der Diskussion sind offenbar aber die Begriffe.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Norwegen und Schweden haben eine lange Erfahrung mit Priorisierung: Professor Heiner Raspe.

Norwegen und Schweden haben eine lange Erfahrung mit Priorisierung: Professor Heiner Raspe.

© Michael Zapf

KIEL. "Dass es eine Liste von Krankheiten gibt, die man behandelt und andere nicht, stimmt nicht mit meinem Verständnis von Humanität und dem Artikel eins des Grundgesetzes überein."

Dieses Zitat der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) stammt aus dem Jahr 2009 und macht deutlich, mit welch schwerem Geschütz deutsche Politiker jede Debatte über Priorisierung heftig bekämpfen.

Die ablehnende Haltung geht quer durch die Parteien. Auch Schmidts Nachfolger Philipp Rösler (FDP) konnte ein Jahr später Rangfolgen mit seinen "ethischen Vorstellungen als Arzt nicht in Einklang bringen".

Geschuldet war die massive Ablehnung den Worten des inzwischen gestorbenen Präsidenten der Bundesärztekammer Professor Dietrich Hoppe zum Ärztetag 2009, die eine öffentliche Debatte über Priorisierung auslösten.

Die KV Schleswig-Holstein hatte den Mut, das Thema in den Mittelpunkt ihres Parlamentarischen Abends zu stellen - und hatte mit Professor Heiner Raspe den Initiator einer Bürgerkonferenz eingeladen, die in Lübeck über Priorisierung beraten hatte.

Das Misstrauen gegenüber jeder Priorisierungsdebatte ist seitdem nicht kleiner geworden, auch wenn andere Länder schon Jahrzehnte lange Erfahrungen mit solchen Fragen haben, wie Raspe an Beispielen aus Norwegen und Schweden zeigte.

Priorisierung hat Potenzial

Ein Problem in Deutschland ist für Raspe die Vermischung der Begriffe Priorisierung und Rationierung und eine negative Besetzung beider Begriffe.

Priorisierung bedeute die vorherige, gedankliche Klärung und Feststellung von Vor- und Nachrangigkeiten, die zu wert-, ziel- und kriterienbasierten Versorgungsempfehlungen führen soll.

Unter Rationierung verstehe man das systematische tatsächliche Vorenthalten medizinischer Leistungen mit dem Ziel einer gerechten Zuteilung. Beides ist also keineswegs etwas ausschließlich Negatives, verdeutlichte Raspe.

Tatsächlich hat Priorisierung eine Menge Potenziale. Dazu gehört für Raspe, dass Priorisierung die eigene Moralität vergegenwärtigt, vor Überbeanspruchung schützt, sich am objektivierbaren Bedarf orientiert, gegen simple Ökonomisierung steht, eine gleichmäßige Versorgung fördert, begründete und transparente Rationierung ermöglicht, die Einordnung neuer Methoden unterstützt und Entscheidungsträger informiert.

Wie aber sieht es mit den Entscheidungsträgern aus? Keiner der anwesenden Politiker griff in die Diskussion hierüber ein. Die Ärzte dagegen machten vehement auf die Schwierigkeit aufmerksam, ökonomische Sachzwänge in der täglichen Praxis auszublenden.

Zwischen Moral und Ökonomie

"Moralität kollidiert in der Praxis mit der Ökonomie", stellte ein Arzt fest. Auch Verantwortliche von Krankenkassen sind nicht grundsätzlich gegen eine öffentliche Debatte.

"Die Diskussion über Priorisierung ist nicht per se unethisch", sagte Dr. Johann Brunkhorst von der Techniker Krankenkasse Schleswig-Holstein.

Im Laufe des Abends wurde deutlich, dass das, worüber Politiker nicht reden wollen, auch in Deutschland zum medizinischen Alltag gehört: Begrenzte Ressourcen stehen einem zu großen Bedarf gegenüber.

Notfallmediziner müssen sich in Sekundenschnelle entscheiden, in welcher Rangfolge sie Verletzte versorgen. In der Transplantationsmedizin werden Wartelisten nach bestimmten Kriterien erstellt.

Und ganz aktuell: Wenn nicht genügend Grippeimpfstoff vorhanden ist, entscheidet der Arzt, wer darauf warten muss und wer sofort geimpft wird.

In der Regelversorgung könnte eine - vom Deutschen Ärztetag bereits 2009 angestoßene - Priorisierungsdebatte Ärzten eine wichtige Unterstützung vor einer Entscheidung bieten.

Dabei sollte nach Ansicht Raspes allerdings auch die Meinung von Laien einfließen, denn: "Wir unterschätzen grundsätzlich den Bürger in der Medizin."

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