Advance Care Planning

Eine dynamische Form der Patientenverfügung

Patientenverfügungen treffen auf Vorbehalte, wenn das Prinzip der Selbstbestimmung mit dem der Fürsorge in Konflikt gerät. Advance Care Planning kann ein Ausweg sein.

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Im Einzelfall muss geprüft werden, ob Patientenverfügungen wirklich angewandt werden sollten.

Im Einzelfall muss geprüft werden, ob Patientenverfügungen wirklich angewandt werden sollten.

© Tobias Kaltenbach / fotolia.com

Ein Gastbeitrag von Dr. Utako Birgit Barnikol, Prof. Dr. Susanne Beck, Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher, Prof. Dr. Heiner Fangerau

Auch nach ihrer gesetzlichen Anerkennung im Jahr 2009 sind Patientenverfügungen für zukünftige Zustände der Einwilligungsunfähigkeit umstritten. Ihr Wert ist völlig unbestritten, doch es bestehen immer wieder Zweifel an der Validität von Patientenverfügungen, solange diese offensichtlich nicht auf der Grundlage einer sachkundigen Beratung erstellt sind und sich in ihnen eher Vorurteile (etwa gegen die "Apparatemedizin") als realistische Einschätzungen niederschlagen.

Derartige Patientenverfügungen werden dann in der Praxis als wenig hilfreich beschrieben. Ferner werden eingeübte formale Handlungslogiken kritisiert, die dazu führen können, dass allein das Vorliegen einer Patientenverfügung die Gefahr eines von Patienten ebenfalls nicht gewünschten Handlungsstillstands mit sich bringt.

Folgende ethische Vorbehalte werden konkret gegenüber herkömmlichen Patientenverfügungen geltend gemacht: Das Prinzip der Selbstbestimmung könne allenfalls bei akuten Willensäußerungen, nicht aber bei Vorausverfügungen Vorrang vor dem Prinzip der Fürsorge haben.

Derartige Bedenken sind vor allem in der Psychiatrie verbreitet, wo die (standesrechtlich anerkannte und gesetzlich festgelegte) Verbindlichkeit von Patientenverfügungen am offensten an Bedingungen geknüpft oder sogar umgangen wird.

So enthält beispielsweise das Formular für Behandlungsvereinbarungen einer deutschen psychiatrischen Universitätsklinik den Passus: "Wenn im Einzelfall von den Behandlungsabsprachen abgewichen wird, ist dies von Seiten der Klinik ausführlich zu begründen und mit der Patientin/dem Patienten zu besprechen". Die Zulässigkeit von Abweichungen selbst wird hier nicht in Zweifel gezogen.

Wille des Patienten wird wiederholt erfragt

Gibt es einen Ausweg aus der "Sackgasse Patientenverfügung"? Einen Ausweg bietet das Advance Care Planning (ACP) an.

ACP lässt sich als eine dynamisierte Form der Patientenverfügung verstehen, bei der der Wille des (potenziellen) Patienten nicht nur punktuell festgeschrieben, sondern wiederholt und unter wechselnden Bedingungen erfragt wird.

Dieses im Vergleich zur Patientenverfügung aufwendigere Verfahren ist bisher in Deutschland nur vereinzelt erprobt worden. Die Willensbildung wird hierbei durch eine Fachkraft unterstützt, die den Betroffenen Informationen über die zu erwartenden Krankheitsverläufe und ihre Auswirkungen auf Patient und Umfeld vermittelt und als konstanter Dialogpartner für die Ausbildung, Ausdifferenzierung und Ausformulierung der Wünsche an die spätere Verlaufsbehandlung fungiert. Dieser Dialog wird partnerschaftlich und nicht direktiv geführt.

Das ACP hat nicht zum Ziel , den Patienten zu bestimmten Präferenzen für Behandlung und Nichtbehandlung zu überreden, sondern möchte Missverständnisse aufzuklären, unbegründete Ängste überwinden und Einseitigkeiten in der Wahrnehmung auf beiden Seiten korrigieren und ausgleichen.

An die Stelle einer einmaligen Festlegung tritt eine Kontinuität der Willensbildung, in die jeweils neu gemachte Erfahrungen und Einstellungsänderungen eingehen können. Die Behandlungswünsche können einer eventuellen Diagnose angepasst und konkretisiert werden.

Gerade im Bereich der demenziellen Erkrankungen erscheint das Verfahren des ACP herkömmlichen Patientenverfügungen in besonderer Weise überlegen zu sein. Denn hier führen die teilweise massiven Persönlichkeitsänderungen zu besonderen Problemen der Vorausverfügung. Es stellt sich die Frage, ob die verfügende Person sich ein angemessenes Bild davon machen kann, wie sich fortgeschrittene Demenz "von innen anfühlt".

Auch besteht das Problem, dass nicht klar ist, ob die von der Verfügung betroffene Person, die sich an ihre frühere Verfügung nicht mehr erinnert, noch dieselbe Person ist, die einst die Verfügung erstellt hat.

"Pflegeverfügungen" bisher nicht vom Rechtsschutz der Patientenverfügung erfasst

Auch wenn rechtlich eindeutig ist, dass Verfügungen über beispielsweise eine Nichtaufnahme künstlicher Ernährung oder die Nichtbehandlung interkurrenter Erkrankungen befolgt werden müssen, ist im Fall demenzieller Entwicklungen noch weniger als bei anderen Patientenverfügungen klar, wie weit sie in der Praxis befolgt werden.

Auch vom Rechtsschutz der Patientenverfügungen bisher nicht erfasste "Pflegeverfügungen", die etwa eine Löffelernährung für spätere Phasen der Erkrankung unter bestimmten Bedingungen ausschließen, werden, solange sie dem "natürlichen Willen" des Patienten widersprechen, oft als Zumutung empfunden und wohl auch ignoriert.

Ein ACP für demenzielle Erkrankungen könnte demgegenüber vorsehen, dass das Ergebnis eines vor der Diagnose erfolgten Shared-decision-making mindestens in der Frühphase der demenziellen Entwicklung neu besprochen wird, indem dem Patienten, soweit er einwilligungsfähig ist, Gelegenheit gegeben wird, seine zuvor getroffenen Festlegungen zu überdenken und anpassen zu dürfen.

Darüber hinaus können, wo immer sinnvoll, Verfahren der Entscheidungsassistenz zur Anwendung kommen, um auch dem in seiner Deliberationsfähigkeit Eingeschränkten Gelegenheit zur Selbstbestimmung zu eröffnen.

Wie Agnieszka Jaworska argumentiert hat, lässt sich Demenzpatienten zumindest in den frühen und mittleren Phasen der Erkrankung die Fähigkeit, Erwartungen und Bewertungen zu äußern, schwerlich absprechen.

Gleichzeitig kann dafür Sorge getragen werden, dass die Wünsche an die spätere Behandlung so formuliert werden, dass sie Aussicht haben, befolgt zu werden. Dazu gehört, dass sie unter die Bedingung gestellt werden, dass der spätere "natürliche Wille" mit dem im ACP Verlauf wiederholt vorausverfügten Willen übereinstimmt und etwa ein Verzicht auf nicht-künstliche Ernährung an die Bedingung geknüpft sein muss, dass der Widerwillen gegen Nahrungszufuhr seinerseits nicht auf von der Grunderkrankung abhängige Faktoren zurückzuführen ist.

Zuletzt kann auch inneren Anpassungen von Erwartungen (z.B. an die Lebensqualität) an den Krankheitsverlauf (sog. Response shifts) Rechnung getragen werden.

Verfahren stößt in der Praxis auf Hindernisse

Während aus medizinethischer Sicht die Umsetzung von ACP-Programmen im Rahmen der Behandlung von demenziellen Entwicklungen zu begrüßen wäre, scheint das Verfahren in der Praxis noch auf erhebliche Widerstände zu stoßen. Weltweit belegen empirische Studien, dass eine Anwendung auf demenzielle Erkrankungen noch hartnäckigere Hindernisse zu überwinden hat, als dies bei anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen der Fall ist.

Erschwerend wirkt sich auf der Seite der Patienten aus, dass viele auch in der frühen Erkrankungsphase Schwierigkeiten haben, ihre persönliche Zukunft gedanklich zu erfassen. Hinzu kommt, dass Patienten, die Vorausverfügungen für spätere Phasen ihrer Erkrankung treffen wollen, über Möglichkeiten und Zuständigkeiten oft unzureichend informiert sind.

Faktoren, die auf der Seite der Ärzte für Probleme sorgen, sind mangelnde Gesprächsführungskompetenzen, das Fehlen ausreichender Zeitkontingente und Hemmungen, mit dem Patienten über unausweichliche, aber zumeist erst in Jahren zu erwartende Phasen der Erkrankung zu sprechen. An dieser Stelle sollten Programme zur Implementierung von ACP-Programmen in die klinische Praxis ansetzen.

In Modellprojekten sollten an den jeweiligen häuslichen oder Institutionenrahmen angepasste ACP-Verfahren getestet und evaluiert werden. ACP-Programme mögen aufwändig und zeitintensiv sein, aber zu erwarten ist, dass sie für mehr Sicherheit und Zufriedenheit bei Patienten und Angehörigen sorgen und auf ärztlicher Seite dazu beitragen, durch moralisches Unbehagen ausgelöste Spannungen aufzulösen.

Dr. Utako Birgit Barnikol, Forschungsstelle Ethik, Universitätsklinikum Köln & Albertus Magnus Universität Köln,

Prof. Dr. Susanne Beck, Kriminalwissenschaftliches Institut, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie, Universität Hannover

Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher, Institut für Philosophie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf,

Prof. Dr. Heiner Fangerau, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Köln.

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