Sterbehilfe für psychisch Kranke

Wenn die Depression unerträglich wird...

In den Niederlanden erfolgt die Sterbehilfe zu etwa einem Prozent bei psychisch Kranken. Oft sind es einsame ältere Frauen mit multiplen psychischen und körperlichen Leiden, die den ärztlich unterstützten Freitod begehren.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

BETHESDA. Inzwischen sind Tötung auf Verlangen und assistierter Suizid in vielen europäischen Ländern, einzelnen US-Bundesstaaten und Kanada nicht nur erlaubt, sondern auch gesetzlich klar geregelt.

Dabei wird diese Form der Sterbehilfe meist nur Patienten mit terminalen somatischen Erkrankungen genehmigt - zu über 80% sind das Krebskranke.

In einigen Ländern, darunter die Niederlande, ist die Sterbehilfe auch bei psychisch Kranken erlaubt, sofern die Sorgfaltskriterien der Euthanasiekommissionen (Regionale Toetsingscommissies Euthanasie, RTE) erfüllt werden.

Danach sollte sich der Arzt, der den Tod begleitet, davon überzeugen, dass der Todeswunsch auf freiwilliger Basis und nach reiflicher Überlegung erfolgt, das Leiden des Patienten unerträglich ist, keine Aussicht auf Besserung besteht und der Patient über seine Prognose gut informiert ist.

Zudem sollte der Arzt zusammen mit dem Patienten zur Ansicht gelangen, dass es keine vertretbare Alternative gibt. Ein weiterer, unabhängiger Arzt muss den Patienten begutachten und schriftlich bestätigen, dass diese Sorgfaltskriterien erfüllt sind.

Niederlanden: pro Jahr etwa 5000-mal Sterbehilfe

Auf diese Weise beenden in dem 17-Millionen-Einwohner-Staat jährlich rund 5000 Menschen ihr Leben, nur bei etwa 1% stehen psychische Leiden im Vordergrund. Bei mehr als 90 % aller Sterbehilfebegehren erfolgt eine Tötung auf Verlangen, bei den übrigen ein assistierter Suizid oder eine Kombination aus beidem. übrigen ein assistierter Suizid oder eine kombination aus bedi

Bioethiker um Dr. Scott Kim vom National Institutes of Health in Bethesda haben sich nun solche Fälle genauer angeschaut. Sie fanden 66 von den RTE veröffentlichte Berichte über Sterbehilfe bei psychisch Kranken in den Jahren 2011 bis Mitte 2014.

Ausgewählte Fallberichte veröffentlicht

Die Euthanasiekommissionen machen ausgewählte Fallberichte auf ihrer Webseite zugänglich, um Transparenz zu demonstrieren und die Entwicklung von Standards zu fördern. Da die Sterbehilfe bei psychisch Kranken auch in den Niederlanden kontrovers beurteilt wird, hat die Kommission fast alle Fälle in diesem Zeitraum veröffentlicht.

Von den 66 psychisch Kranken, die den ärztlich unterstützten Tod wählten, waren 46 Frauen (70%).

Der Frauenanteil ist damit deutlich höher als in der Gesamtgruppe der Patienten mit Sterbehilfe: Hiervon sind nur 43% weiblich.

Die meisten sind schwer depressiv und einsam

Bei mehr als der Hälfte (55%) der Sterbehilfekandidaten wurde primär eine Depression für den Todeswunsch genannt, ein Viertel zeigte auch oder vor allem psychotische Merkmale, 42% hatten eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Angststörung, bei vier der psychisch Kranken stellten die Ärzte kognitive Einschränkungen fest. Sie wurden von den Ärzten aber noch als einwilligungsfähig erachtet.

"Lebend Hölle"

Bei einer Patientin konnte keine psychische Störung diagnostiziert werden, sie wollte nach dem Tod ihres Mannes jedoch nicht mehr weiterleben, empfand ihr Leben als bedeutungslos und sprach davon als "lebende Hölle".

Praktisch alle anderen hatten jedoch eine lange psychiatrische Vorgeschichte, fast 70% waren seit über zehn Jahren in psychiatrischer Behandlung.

Bei über der Hälfte fanden sich auch Hinweise auf eine Persönlichkeitsstörung, sie berichteten von einer niedrigen Frustrationsschwelle oder der Unfähigkeit, mit Problemen umzugehen. Ein Großteil fühlte sich sehr einsam.

Pharmakologisches Arsenal ausgeschöpft

Viele der Patienten hatten das pharmakologische Arsenal komplett ausgeschöpft. Bei knapp 40% war eine Elektrokrampftherapie versucht worden, bei zwei auch eine tiefe Hirnstimulation.

Knapp 60% litten zudem an ernsten somatischen Krankheiten, etwa Krebs, COPD, KHK, Parkinson, Verlust des Gehörs oder des Augenlichts, Inkontinenz oder Schmerzsyndromen. Ein Drittel hatte zwei oder mehr solcher somatischen Leiden.

Bei etwa einem Drittel wurde die verlangte Tötung von den Euthanasie-Ärzten zunächst abgelehnt. Bei drei Patienten änderten die Ärzte ihre Meinung, in den anderen Fällen suchten sich die Patienten einen anderen Arzt, zumeist einen von der "Levenseindekliniek", einem mobilen Team, das von der holländischen "Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende" (Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde) finanziert wird.

Die Organisation ist seit 2012 aktiv und will auch solchen Patienten zum Tode verhelfen, denen andere Ärzte die Sterbehilfe verweigern.

Selbstmord-Assistenten meist Allgemeinmediziner und Psychiater

Von den beteiligten Ärzten waren rund 40% Psychiater, die übrigen zumeist Allgemeinmediziner. Immerhin 89% der Ärzte, die beratend oder für eine Zweitmeinung konsultiert wurden, hatten eine psychiatrische Facharztausbildung.

Bei einem Viertel der Patienten erzielten die Ärzte keinen Konsens. Hier wurde in der Regel bezweifelt, dass alle Sorgfaltskriterien erfüllt waren.

Insgesamt war der Beurteilungsaufwand weit höher als bei somatisch Kranken. So wurden mehr Ärzte involviert, was die Autoren um Kim damit begründen, dass es bei psychisch Kranken weit schwieriger ist, die Erfüllung der Sorgfaltskriterien zu bewerten. Bei einem Patienten im Krebsendstadium leuchte die Ausweglosigkeit der Situation jedem ein, bei psychisch Kranken sei man wesentlich vorsichtiger.

Mehr zum Thema

Ethische Fragen

Wille oder Wohl des Patienten – was wiegt stärker?

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Weniger Rezidive

Hustenstiller lindert Agitation bei Alzheimer

Lesetipps
Ulrike Elsner

© Rolf Schulten

Interview

vdek-Chefin Elsner: „Es werden munter weiter Lasten auf die GKV verlagert!“

KBV-Chef Dr. Andreas Gassen forderte am Mittwoch beim Gesundheitskongress des Westens unter anderem, die dringend notwendige Entbudgetierung der niedergelassenen Haus- und Fachärzte müsse von einer „intelligenten“ Gebührenordnung flankiert werden.

© WISO/Schmidt-Dominé

Gesundheitskongress des Westens

KBV-Chef Gassen fordert: Vergütungsreform muss die Patienten einbeziehen