Ethikkommission nimmt Stellung

Wie soll das Alter von Flüchtlingen abgeklärt werden?

Das Alter von unbegleiteten jungen Flüchtlingen entscheidet maßgeblich über den Verlauf ihres Asylantrags. Seit Monaten wird diskutiert, ob die gängige Praxis zur Altersdiagnostik mittels Röntgen ethisch korrekt und medizinisch ungefährlich ist. Nun hat die Zentrale Ethikkommission dazu Stellung genommen.

Von Anne Zegelman Veröffentlicht:
Der Arzt Gerhard Bojara bei der Untersuchung eines jungen Flüchtlings in Osnabrück.

Der Arzt Gerhard Bojara bei der Untersuchung eines jungen Flüchtlings in Osnabrück.

© Ingo Wagner / dpa

BERLIN. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) sieht in der Altersklärung von jungen, unbegleiteten Flüchtlingen per Röntgenuntersuchung ein potenzielles Gesundheitsrisiko. Das schreibt sie in einer Stellungnahme und fordert, andere Klärungsvarianten vorzuziehen.

"Auf der Grundlage der von uns eingeholten Expertisen und der darin angeführten Literatur sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass durch keine der praktizierten medizinischen Untersuchungen das Alter mit hinreichender Zuverlässigkeit festgestellt werden kann", erklärt darin Professor Dieter Birnbacher, Vorsitzender der ZEKO.

Die Untersuchung mit Röntgenstrahlen und vergleichbaren Methoden stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit dar.

Röntgenuntersuchung ist risikobehaftet

Auch weisen die Autoren auf die UN-Kinderrechtskonvention hin: "In jedem Verfahren hat das Kindeswohl grundsätzlich Vorrang, auch in Begutachtungsverfahren, in denen der Gutachter zu Neutralität verpflichtet ist." Und aufgrund der nicht vorhandenen Schwellendosis müsse jede Röntgenuntersuchung als risikobehaftet gelten.

Birnbacher hebt die Notwendigkeit hervor, zeitnah fachübergreifende Richtlinien unter Beteiligung aller relevanten Fachgesellschaften zu entwickeln. "Soweit möglich sollten auf dieser Basis interdisziplinäre Standards entwickelt werden, die ethische und rechtliche Aspekte angemessen berücksichtigen", heißt es in einer Empfehlung der Kommission.

Solange diese nicht vorlägen, so sein Vorschlag, sollten sich Behörden an den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik orientieren, die unter anderem Röntgen- und Genitaluntersuchungen ausschließen.

Außerdem spricht die ZEKO acht Empfehlungen aus, von denen eine lautet, dass die Vorgehensweisen zur medizinischen Altersschätzung "der besonderen Situation der allein reisenden aus einem fremden kulturellen Kontext stammenden und möglicherweise traumatisierten Jugendlichen gerecht werden" müsse.

Eine informierte Zustimmung zu medizinischen Altersgutachten und dafür erforderliche Untersuchungen setze darüber hinaus eine intensive und einfühlsame Information mithilfe eines Dolmetschers voraus.

Alter entscheidet über den Verlauf des Asylantrags

Ob unbegleitete junge Flüchtlinge aus Krisenregionen über oder unter 18 Jahre alt sind, entscheidet maßgeblich über den Verlauf ihres Asylantrags. Sind sie minderjährig, werden sie in der Regel asylrechtlich anerkannt und in Jugendhilfeeinrichtungen, Pflegefamilien oder Wohngemeinschaften untergebracht, erhalten Zugang zu Bildung und zur gesundheitlichen Versorgung.

Oft können sie ihr tatsächliches Alter jedoch aufgrund von fehlenden Dokumenten nicht nachweisen – oder wissen selbst nicht, wie alt sie sind. Die Konsequenz: Das Jugendamt muss das Alter aufgrund der psychischen Reife schätzen – häufig werden außerdem Röntgenuntersuchungen vorgenommen.

Ob diese gängige Praxis zur Altersdiagnostik ethisch korrekt und medizinisch ungefährlich ist, wird seit Monaten heftig diskutiert. Auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich im Oktober 2015 mit dieser Frage. Eine Freiburger Rechtsanwältin hatte Verfassungsbeschwerde eingelegt, sie sah in den Untersuchungen eine Verletzung der Menschenwürde.

Das Verfassungsgericht nahm die Beschwerde allerdings nicht zur Entscheidung an (Januar 2016).

Bereits vor einem Jahr wiesen die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) und die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) auf die Gefahren hin. "Die Anwendung von ionisierenden Strahlen birgt ein erhöhtes Krebsrisiko", kritisierte Pädiater Dr. Thomas Novotny im August 2015.

Die gesamte ZEKO-Stellungnahme: http://tinyurl.com/jyue7mu

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