Ausnahmezustand

Kliniken sind auf Terror nicht eingestellt

Nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt hat die Notfallversorgung perfekt funktioniert. Unfallmediziner sehen ihre Fähigkeiten aber selbstkritisch: Die bestehenden Strukturen reichen nicht aus. Probleme würde vor allem ein "Second Hit" bereiten.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Notfallübung in Berlin: Helfer kümmern sich um einen Mann, der ein verletztes Terroropfer darstellt.

Notfallübung in Berlin: Helfer kümmern sich um einen Mann, der ein verletztes Terroropfer darstellt.

© Paul Zinken/dpa

KÖLN. In Deutschland müssen Strukturen für die medizinische Versorgung von Terroropfern geschaffen werden. Anschläge stellen Rettungsdienste und Kliniken vor Herausforderungen, auf die sie bislang nicht ausreichend vorbereitet sind, glaubt Professor Bertil Bouillon. Er ist Direktor der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sporttraumatologie am Klinikum Köln-Merheim.

"Unsere alten Konzepte reichen nicht aus", betonte Bouillon auf dem "Gesundheitskongress des Westens 2017" in Köln. Die Kliniken seien auf die Folgen von Terroranschlägen nicht eingestellt. Bei ihnen handele es sich nicht um den "normalen" Massenanfall von Verletzten (MANV). "Wir haben wenig Erfahrung mit komplexen Verletzungen." Kollegen, die nach den Anschlägen in London, Madrid und Paris Opfer versorgt haben, hätten von gravierenden Problemen berichtet, weil sie auf die Versorgung von Patienten mit Blutungsverletzungen nicht vorbereitet waren.

Bei dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember sei die Situation anders gewesen, die Verletzungen hätten denen nach Verkehrsunfällen entsprochen (die "Ärzte Zeitung" berichtete). "Berlin war medizinisch kein Problem", sagte der Chirurg. Aber andere Probleme haben sich dort gezeigt: Weil sie von einem Unfall ausgingen, hatten sich die Rettungsdienste dort direkt am Ort des Geschehens versammelt. Doch im Lkw hätte noch Sprengstoff gelagert sein können. "Es hätte eine viel größere Katastrophe passieren können."

In Deutschland habe man sich bislang kaum mit dem Phänomen des "Second Hit" befasst, also einem gezielten zweiten Anschlag, wenn Helfer am Ort des Geschehens eintreffen. Das gelte auch für das Risiko, dass sich vermeintliche Patienten mit Bomben am Körper ins Krankenhaus einliefern lassen. Im Nahen Osten gebe es dagegen gezielte Sicherheitsmaßnahmen. "Wir sollten uns darüber Gedanken machen", findet Bouillon. Der Islamische Staat habe Terroristen aufgefordert, Kliniken ins Visier zu nehmen, weil sie nicht geschützt sind.

Bislang stoppen die Notfallübungen meist an der Klinikpforte. Sie sollten aber bis in die Operationssäle hineinreichen, selbst wenn das mit sehr hohen Kosten verbunden ist, sagte er. Die Finanzierung von Notfallkonzepten hält Bouillon für eine gesellschaftliche Aufgabe. Schließlich gehe es darum, eine bestmögliche Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. "Wir müssen diese gesellschaftliche Diskussion führen."

Die Fachgesellschaften könnten für die Notfallkonzepte die medizinischen Inhalte liefern, sie seien aber auf die Kooperation mit Sondereinsatzkommandos, Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten angewiesen. "Das sind die Profis." Bouillon verweist zur Erstellung neuer Strukturen auf bestehende MANV-Konzepte, sie sollten durch den Aspekt der Terroranschläge ergänzt werden. Wichtig sei es zudem, Führungskräfte wie Oberärzte in speziellen Kursen zu schulen.

Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und der Sanitätsdienst der Bundeswehr haben gemeinsam solche Ausbildungsangebote entwickelt. Die DGU setzt auf ihre regionalen Traumanetzwerke, um das Spezialwissen zu verbreiten. "Sie sind ideal, um die Ideen in die Fläche zu bringen", sagte Bouillon.

Die Anschläge hinter der Diskussion

- Berlin, 19.12.2016: Elf Tote, 55 Verletzte. Krisenmanagement hat funktioniert; 230 Rettungskräfte, darunter 80 Ärzte und DRK-Sanitäter, waren im Einsatz. aerztezeitung.de/926665

- Brüssel, 22.3.2016: 35 Tote, über 300 Verletzte. Kliniken in der Hauptstadt reagierten nach einem Notfall-Plan, das Rote Kreuz rief zum Blutspenden auf. aerztezeitung.de/907645

- Paris, 13.11.2015: 130 Tote, 352 Verletzte, davon 97 schwer. Viele niedergelassene Ärzte haben sofort reagiert; sie wurden von Gesundheitsministerin Marisol Touraine als "Helden" gelobt. aerztezeitung.de/899452

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