Transplantationsskandal

Ein mühsamer Prozess

Seit genau einem Jahr läuft der erste Prozess um den Transplantationsskandal in Göttingen - und noch ist kein Ende in Sicht. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:
Daumen hoch: Der angeklagte Arzt im August 2013 im Landgericht Göttingen zwischen seinen Verteidigern.

Daumen hoch: Der angeklagte Arzt im August 2013 im Landgericht Göttingen zwischen seinen Verteidigern.

© Rampfel / dpa

GÖTTINGEN. Seit einem Jahr verhandelt das Landgericht Göttingen gegen den früheren Leiter der Transplantationschirurgie am Göttinger Universitätsklinikum. In den vergangenen zwölf Monaten hat die Schwurgerichtskammer an 42 Verhandlungstagen etwa 80 Zeugen und mehr als ein halbes Dutzend Sachverständige gehört.

Waren zum Prozessauftakt noch mehrere Dutzend Medienvertreter aus ganz Deutschland nach Göttingen gekommen, hat das Interesse an dem Mammutprozess inzwischen stark nachgelassen. Nur einige wenige Journalisten verfolgen regelmäßig die teilweise ausgesprochen zähen und ermüdenden Verhandlungen.

Ein Ende des Prozesses ist immer noch nicht absehbar. Das Gericht hat erst kürzlich weitere Verhandlungstermine bis in den November hinein angesetzt.

Der angeklagte Chirurg, der von 2008 bis 2011 am Göttinger Klinikum tätig war, muss sich wegen versuchten Totschlages in elf Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen verantworten.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem inzwischen 47 Jahre alten Mediziner vor, durch Datenmanipulationen Patienten zu einer Spenderleber verholfen zu haben, die nach den geltenden Richtlinien keinen Anspruch auf ein Organ gehabt hätten.

Damit habe er in Kauf genommen, dass andere Patienten, die wegen der Falschangaben auf der Warteliste von Eurotransplant nach hinten rutschten, möglicherweise starben.

Außerdem soll er drei Patienten eine Leber eingepflanzt haben, obwohl eine Transplantation medizinisch nicht angezeigt gewesen sei. Die betroffenen Patienten waren später an Komplikationen gestorben.

Biliopathie und Cholangitis

An manchen Tagen ähnelt die Verhandlung einem Medizin-Symposium, insbesondere dann, wenn die vom Gericht beauftragten Gutachter das Vorgehen des Angeklagten in den fraglichen Fällen bewerten sollen.

Inzwischen sind die Verfahrensbeteiligten mit dem medizinischen Vokabular so vertraut, dass ihnen die einschlägigen Fachbegriffe wie Varizen, Aszites, portale hypertensive Biliopathie, Cholangitis oder Pfortader-Thrombose locker über die Lippen kommen.

Beim Prozessauftakt vor einem Jahr hatte der Angeklagte, der damals noch wegen potenzieller Fluchtgefahr in Untersuchungshaft saß, seine Familienangehörigen und andere Unterstützer im Zuschauerraum mit nach oben gestrecktem Daumen begrüßt.

Die Geste weckte Erinnerungen an Josef Ackermanns Victory-Zeichen zu Beginn des Mannesmann-Prozesses, das dem Deutsche-Bank-Chef damals den Vorwurf der Arroganz einbrachte. Der Chirurg hat seither auf solche Gesten verzichtet, meistens beschränkt er sich auf ein freundliches Nicken.

Während die Journalisten sich rar gemacht haben, finden sich im Zuschauerraum stets einige "Stammgäste" ein, darunter eine Gruppe von Unterstützern.

Manche haben auch Verpflegung dabei, machen sich Notizen und kommentieren das laufende Prozessgeschehen, manchmal so ausgiebig, dass sich andere Zuhörer gestört fühlen.

Auch die Ehefrau des Angeklagten ist jedes Mal dabei, sie nimmt als Beistand ihres Mannes an dem Prozess teil. Die Zahnärztin hat erst kürzlich in einem anderen Verfahren eine Schlappe erlitten.

Das Verwaltungsgericht Regensburg wies ihre Klage gegen den Entzug ihres Doktortitels durch die Universität Regensburg ab. Nach Ansicht der Richter hat sie in ihrer Dissertation in erheblichem Umfang Inhalte aus der Doktorarbeit ihres Ehemanns übernommen, ohne ausreichend auf diese Quelle hinzuweisen.

Strafanzeige gegen die BÄK

Im Prozess vor dem Göttinger Landgericht sitzt die Ehefrau in der Platzreihe, in der auch der Angeklagte und seine Verteidiger sitzen. Der Chirurg lässt sich von drei Anwälten vertreten, dem Göttinger Strafrechtler Professor Steffen Stern, dem Hannoveraner Medizinrechtler Jürgen Hoppe und dem Medienanwalt Ulf Haumann.

Treibender Motor der Verteidigung ist Steffen Stern. Anders als sein Kollege Hoppe, der stets sachlich und gelassen bleibt, verfällt Stern häufiger in einen emotionalen und hitzigen Tonfall und scheut auch vor persönlichen Attacken nicht zurück.

Der versierte und stets gut präparierte Strafverteidiger hat Angriffslinien aufgebaut, die teilweise über den eigentlichen Rahmen des Prozesses hinausreichen. So hat er unter anderem Strafanzeige gegen die Bundesärztekammer (BÄK) erstattet.

Stern wirft der BÄK vor, mit den Richtlinien zur Organtransplantation gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes zu verstoßen.

Die Richtlinien schreiben vor, dass alkoholkranke Patienten erst eine neue Leber erhalten dürfen, wenn sie eine Karenzzeit von sechs Monaten eingehalten haben. Der Anwalt hält das für eine unzulässige Diskriminierung. Für Alkoholkranke könne der Ausschluss das Todesurteil bedeuten, kritisiert er.

Strafanzeige gegen neuen Leiter der Transplantationschirurgie

Stern hat außerdem eine Strafanzeige gegen den neuen Leiter der Transplantationschirurgie am Göttinger Uni-Klinikum gestellt.

Dieser hatte nach seinem Amtsantritt zahlreiche Patienten von der Warteliste für ein Spenderorgan gestrichen, weil diese nicht die geforderten Kriterien für eine Meldung bei der zentralen Vergabestelle Eurotransplant erfüllt hätten.

Nach Ansicht des Verteidigers war die unter der Ägide seines Mandanten vorgenommene Listung jedoch gerechtfertigt, weil die Gefahr bestanden habe, dass die betreffenden Patienten ohne ein Spenderorgan sterben könnten.

Hauptziel seiner Attacken im Gerichtssaal ist die Vertreterin der Anklagebehörde, Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff. Wolff ist Spezialistin für Korruptionssachen bei der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität in Braunschweig, wo sie auch die Ermittlungen in der Volkswagen-Affäre geführt hatte.

Die Braunschweiger Strafverfolgungsbehörde hatte den Göttinger Fall übernommen, weil zu Beginn der Ermittlungen der Verdacht bestanden hatte, dass der Chirurg von einem russischen Patienten Bestechungsgeld für eine neue Leber kassiert haben könnte. Hierfür fanden sich keine Anhaltspunkte.

Der russische Patient war auch der Auslöser für die Ermittlungen gewesen. Der alkoholkranke Geschäftsmann hatte im Mai 2011 eine neue Leber im Göttinger Uni-Klinikum bekommen.

Wenige Wochen später wies ein anonymer Anrufer die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) auf kriminelle Machenschaften in der Göttinger Uni-Klinik hin.

Nach dem Aufwachen hatte der Patient plötzlich eine neue Leber

Der Anruf brachte eine Lawine ins Rollen, die auch andere Kliniken erfasste und das Vertrauen in die Transplantationsmedizin schwer erschütterte.

Außer dem russischen Geschäftsmann hatten auch mehrere andere Patienten trotz fehlender Alkoholabstinenz eine Spenderleber bekommen. Einer von ihnen kann bis heute kaum fassen, wie es dazu gekommen ist.

Der an einer alkoholbedingten Leberzirrhose leidende Maurer war im April 2011 bewusstlos zusammengebrochen. Als er fünf Tage später wieder zu sich kam, lag er im Göttinger Klinikum und hatte eine neue Leber.

Er habe gedacht, er sei von Außerirdischen entführt worden, erklärte er vor Gericht. Die Mediziner sollen ihm das Organ eingepflanzt haben, ohne je mit ihm über den Eingriff gesprochen geschweige denn seine Einwilligung eingeholt zu haben.

Möglichst viele Transplantationen?

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass es dem Angeklagten darum gegangen sei, möglichst viele Transplantationen vorzunehmen. Er habe damit nicht nur sein Renommee steigern wollen, sondern auch finanzielle Motive verfolgt.

In seinem Arbeitsvertrag war geregelt, dass er zusätzlich zu seinem monatlichen Grundgehalt von 14.000 Euro für jede über die Mindestanzahl von 20 hinausgehende Lebertransplantation eine Vergütung von jeweils 1500 Euro erhielt. Die Höchstgrenze dieses variablen Anteils lag bei 60.000 Euro.

Der Angeklagte hatte zu Prozessbeginn behauptet, dass er ethische Bedenken gegen die Bonus-Regelung gehabt habe, das Klinikum ihm diese aber aufgedrängt habe. Ob dies zutreffend ist, hat die Kammer, so scheint es zumindest, nicht sehr interessiert.

Das Gericht befragte zwar einige Zeugen dazu, von denen allerdings niemand die Vertragsverhandlungen geführt hatte. Erst nachdem die Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hatte, lud die Kammer schließlich auch das damals zuständige Vorstandsmitglied des Göttinger Uni-Klinikums, Barbara Schulte, vor.

Die frühere Klinikchefin gab an, dass der Angeklagte selbst die Bonus-Regelung ins Spiel gebracht und keinerlei Bedenken geäußert habe.

Trotz dieser Aussage hat die Kammer kürzlich in einem Beschluss zu einem Beweisantrag der Verteidigung verkündet, sie halte es für erwiesen, dass der Angeklagte nicht eigeninitiativ auf die Bonusregelung hingewirkt habe.

Die Staatsanwaltschaft stellte am jüngsten Verhandlungstag den Antrag, Schulte noch einmal vorzuladen. Verteidiger Steffen Stern warf ihr vor, sich auf "Schmutz" zu kaprizieren.

Dass der Ton zunehmend gereizter und schärfer wird, zeigte sich auch an dem darauf folgenden Wortwechsel. Als die Staatsanwältin sich gegen die Angriffe des Verteidigers zur Wehr setzen wollte, schnitt ihr der Vorsitzende Richter Ralf Günther das Wort ab, weil nach der Strafprozessordnung keine Replik auf die Stellungnahme der Verteidigung erlaubt sei.

Die Staatsanwältin kommentierte dies mit der Bemerkung, dass das Gericht "mal wieder sehr einseitig" reagiere. Wolff hatte kürzlich auch einen Befangenheitsantrag gegen den Kammervorsitzenden gestellt, der aus formalen Gründen abgelehnt wurde.

Zwei Dutzend Beweisanträge

Dass die Strafverfolger mit der Prozessführung des Gerichts offenkundig nicht besonders zufrieden sind, zeigt sich auch daran, dass die Staatsanwaltschaft mittlerweile zwei Dutzend Beweisanträge gestellt hat.

Das ist insofern ungewöhnlich, als dieses Mittel sonst vor allem von der Verteidigerseite genutzt wird, um auf den Prozess Einfluss zu nehmen.

Unter anderem hat die Staatsanwaltschaft am Montag beantragt, zahlreiche Schriftstücke in das Verfahren einzuführen, die den Verlauf der Gehaltsverhandlungen dokumentieren sollen.

Den Aktenordner mit den betreffenden Dokumenten hatte sie dem Gericht bereits vor Monaten übergeben.

Noch ist unklar, wie der Prozess am Ende ausgehen wird. Eines aber dürfte jetzt schon feststehen: Mit der Urteilsverkündung wird das Verfahren nicht zu Ende sein, mindestens eine der Parteien wird dagegen Revision einlegen.

Der Bundesgerichtshof muss dann prüfen, ob das Göttinger Urteil Bestand hat oder ob der Fall neu verhandelt werden muss.

Der Prozess hat eine Pilotfunktion

Insbesondere die Staatsanwaltschaft Regensburg, die ebenfalls in 43 Verdachtsfällen gegen den Angeklagten ermittelt, verfolgt das Verfahren mit Interesse. Der Chirurg hatte bis 2008 in Regensburg gearbeitet.

Die Göttinger Richter haben im Dezember in einer Zwischenbilanz dargelegt, dass sie einige Fälle anders bewerten als die Staatsanwaltschaft. So halten sie nur einen von drei Fällen, die als Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt sind, für strafrechtlich relevant.

Laut Anklage soll der Chirurg drei Patienten eine Leber eingepflanzt haben, ohne dass dies medizinisch indiziert gewesen sei. Die Patienten seien zudem nicht ausreichend über Risiken und Behandlungsalternativen aufgeklärt worden. Letzteres sieht auch die Kammer so, geht aber in zwei Fällen von einer hypothetischen Einwilligung aus.

Es sei nicht nachweisbar, ob die Patienten bei korrekter Aufklärung nicht doch in eine Transplantation eingewilligt hätten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Chirurgen ferner vor, elf Patienten seien fälschlicherweise als dialysepflichtig gemeldet gewesen.

In drei Fällen seien auch Blutwerte manipuliert worden, fünf Transplantierte seien nicht ausreichend lange „trocken“ gewesen. Mehrere Zeugen haben bestätigt, dass es Manipulationen gegeben habe, nicht aber, dass der Chirurg selbst manipuliert habe.

Die Verteidigung weist alle Anklagevorwürfe zurück und stellt das gesamte System der Organvergabe in Frage: Die Richtlinien der Bundesärztekammer seien verfassungswidrig. Deren Funktionäre hätten keine Legitimation, über Leben und Tod von Patienten zu entscheiden.

Zudem sei der MELD-Score, nachdem die Dringlichkeit einer Organtransplantation bemessen wird, ein fragwürdiges Kriterium. Der Göttinger Labormediziner Professor Michael Oellerich berichtete am Montag, dass es für den MELD bislang keine einheitlichen Standards gebe.

Je nachdem, welches Labor Messungen vornehme und welche Methode es anwende, könne es Abweichungen geben. Das Gericht wird auch darüber befinden, ob Systemfehler einen Arzt dazu berechtigen, sich über Regeln hinwegzusetzen und nach eigenem Gutdünken zu verfahren. (pid)

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