Es hilft Demenzpatienten, wenn die Kooperation stimmt

Die medizinische und pflegerische Versorgung von Demenzpatienten muss künftig besser strukturiert werden. Und auch die pflegenden Angehörigen brauchen mehr Unterstützung. Das sind Schlussfolgerungen aus dem Modellprojekt "Initiative Demenzversorgung in der Allgemeinmedizin" (IDA) in Mittelfranken.

Veröffentlicht:
Angehörige von Demenzkranken sind für die Versorgung sehr wichtig, müssen aber dringend entlastet werden. © dpa

Angehörige von Demenzkranken sind für die Versorgung sehr wichtig, müssen aber dringend entlastet werden. © dpa

© dpa

Ärzte Zeitung: Was ist das Besondere am IDA-Projekt?

Professor Elmar Gräßel: Eine Besonderheit ist, dass wir mit dem IDA-Projekt über die Hausärzte Patienten, die an Demenz erkrankt sind, und deren Angehörige erreichen wollten, und zwar unabhängig von einer speziellen fachärztlichen Versorgung, also unabhängig davon, ob ein Nervenarzt oder Neurologe in Anspruch genommen wird oder nicht. Die Inanspruchnahme von nervenärztlicher Versorgung wurde vom IDA-Projekt nicht beeinflusst. Es zeigte sich, dass bei etwa der Hälfte der Patienten die Hausärzte mit Nervenärzten in der medizinischen Betreuung von Demenzkranken zusammenarbeiten. Nur der Zugang zu den Patienten, also die Gewinnung der Patienten für das IDA-Projekt, erfolgte über den Hausarzt und nicht über Nervenärzte oder Gedächtnissprechstunden. Mit IDA wurden also an Demenz Erkrankte und ihre Familien dort abgeholt, wo sie leben, und zwar sowohl in der ländlichen Umgebung wie auch in der Großstadt.

Ärzte Zeitung: Welche Ziele wurden mit der Studie verfolgt?

Gräßel: Mit der Studie wollten wir der Frage nachgehen, wie sich die Demenzsituation in der Versorgungsrealität verbessern lässt. Es ging also nicht um ein festes Angebot, das wissenschaftlich auf seine Wirksamkeit untersucht werden sollte. Erprobt wurde eine eigens entwickelte Schulung von Hausärzten zu Diagnostik, leitlinienkonformer Therapie und nicht-medikamentösen Versorgungskonzepten. Die Schulung erfolgte durch Nervenärzte und Neurologen mit langjähriger Erfahrung mit Demenzerkrankungen. Darüber hinaus wurde in der Studie die Vermittlung zusätzlicher Unterstützungsangebote, insbesondere einer zugehenden Angehörigenberatung, erprobt. Die Angehörigen konnten die Angebote in Anspruch nehmen - oder auch nicht. Das spiegelte die Versorgungsrealität.

Ärzte Zeitung: Zu Beginn der Studie gab es Probleme bei der Rekrutierung von Patienten. Was waren die Gründe?

Gräßel: Beim Thema Demenz gibt es generell immer wieder Unsicherheiten, wie soll man die Familien ansprechen. Und auch auf Seiten der Patienten und ihrer Angehörigen gibt es solche Unsicherheiten. Das war auch in der Studie so. Das Wort Demenz wird oft vermieden und das hat dann letztlich auch zu den Rekrutierungsproblemen geführt. Dies weist aber auch auf ein Hauptproblem bei den Demenzerkrankungen hin. Man will die Diagnose oftmals nicht wahrhaben. Wahrscheinlich werden deshalb Entlastungsangebote nicht in dem Maße akzeptiert, wie wir uns das vorgestellt haben.

Ärzte Zeitung: Den Angehörigen wurden Beratung und Hilfen angeboten. Wie wurden diese Angebote angenommen?

Gräßel: Die Teilnahme an angeleiteten Angehörigengruppen war vergleichsweise gering. Dennoch war die Steigerung beachtlich. Normalerweise werden Angehörigengruppen von drei Prozent in Anspruch genommen, wenn der Hausarzt - so wie im Projekt geschehen - so etwas aktiv vermittelt, sind es 15 Prozent.

Bei der zugehenden Form der Angehörigenberatung war es so, dass es in den Fällen, in denen der Hausarzt keinen Auftrag hatte, Beratung zu vermitteln, bei maximal 15 Prozent tatsächlich zu einem Beratungskontakt innerhalb von zwei Jahren kam. Wenn der Hausarzt das Angebot jedoch systematisch vermittelte und die IDA-Berater dann von sich aus aktiv wurden, kam es in 67 Prozent der Fälle zu einem Kontakt mit dem Erkrankten und den Familienangehörigen. Das zeigt, die zugehende Form der Angehörigenberatung funktioniert. Wenn der Hausarzt etwas systematisch vermittelt, erhöht sich auf jeden Fall die Inanspruchnahme, auch wenn die Inanspruchnahme freiwillig ist.

Ärzte Zeitung: Reicht das schon aus?

Gräßel: Nein, das reicht noch nicht aus. Überraschend war für uns, dass weitere fördernde oder entlastende Angebote, also Besuchsdienste, Tagespflege oder auch Ergotherapie, kaum angenommen wurden, auch wenn die Berater darauf hinwiesen. Nun muss man einschränkend allerdings berücksichtigen: In die Studie waren nur leicht und mittelschwer Erkrankte aufgenommen.

Ärzte Zeitung: Wie hat sich die gesundheitliche Situation der Patienten in den zwei Jahren verändert?

Gräßel: Zum einen: Wir haben in allen drei Studienarmen eine vergleichsweise geringe Heimübertrittsrate von etwa zwölf Prozent innerhalb von zwei Jahren.

Zum anderen: Wir haben den Barthel-Index als Maß für die Selbstständigkeit verwendet. Und da zeigt sich, dass die Erkrankung in allen drei Gruppen fortschreitet. Das, wie auch die Heimübertrittsrate im Zweijahreszeitraum, war auch durch unterstützende Beratung nicht zu beeinflussen.

Ärzte Zeitung: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Demenzerkrankungen. Was benötigt eigentlich ein an Demenz erkrankter Mensch?

Gräßel: Da gibt es nach meiner Ansicht drei Punkte, die die Situation der Patienten entscheidend verbessern können. Zum ersten: Wertschätzung und emotionale Zuwendung, also den Patienten ernst nehmen. Zweitens: Sinnvolle Beschäftigung, also Teilhabe am Leben, und drittens: eine bedürfnisgerechte Versorgung. Wenn hier Angehörige und Haus- und Fachärzte gut zusammenarbeiten, ist viel gewonnen.

Wünschenswert wäre auch eine bessere Vernetzung von Hausarzt und Angehörigenberater, die sich idealerweise vierteljährlich austauschen sollten. Damit würde ein wichtiger Ankerpunkt für die Versorgung geschaffen.

Ärzte Zeitung: Wie kann man den Angehörigen helfen?

Gräßel: Hausärzte und alle im Gesundheitswesen Tätigen, vom Kassenangestellten bis zum Klinikarzt, müssen den Angehörigen klarmachen, dass es keine Schande ist, wenn man sich beispielsweise durch einen Besuchsdienst entlastet.

Ärzte Zeitung: Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Ergebnissen?

Gräßel: Wir haben gesehen, was durch eine systematische, aktive Vermittlung durch Hausärzte in der Versorgung zu verbessern ist. Wenn Hausärzte also ein Angebot mit Adresse konkret empfehlen und vermitteln, wird das auch angenommen. Die Inanspruchnahme anderer Versorgungsangebote konnte nicht gesteigert werden. Ob der Verlauf der Erkrankung durch solche Betreuungs- und Versorgungsangebote beeinflusst werden kann, müssen weitere Forschungen zeigen.

Wenn man den Krankheitsverlauf mit nicht-medikamentösen Maßnahmen beeinflussen will, muss wahrscheinlich noch mehr getan werden, zum Beispiel individuell ausgerichtete Ergotherapie oder kognitives Training zu Hause.

Zusätzlich brauchen wir eine stärkere Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten für die Angehörigen zum Beispiel durch Besuchsdienste. So könnte die fortschreitende Unselbstständigkeit des Demenzerkrankten eventuell abgemildert werden.

Ärzte Zeitung: Die Studie ist abgeschlossen, wie geht es jetzt weiter?

Gräßel: Es laufen noch eine Reihe von Auswertungen. Am Helmholtz Zentrum in München werden zum Beispiel die gesundheitsökonomischen Daten ausgewertet. Außerdem gibt es noch eine Vier-Jahres-Untersuchung mit der Fragestellung, ob sich der Heimübertritt eventuell über diesen längeren Zeitraum betrachtet verzögern lässt. Die Ergebnisse werden im kommenden Jahr, also 2011, vorliegen.

Das Interview führte Jürgen Stoschek

Zur Person

Professor Elmar Gräßel ist Leiter des Bereichs Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem psychosoziale Fragestellungen bei psychiatrischen Erkrankungen wie Demenz und Depression sowie die Versorgungsforschung bei chronischen Erkrankungen wie Schlaganfall.

Seit 1999 ist er Vorsitzender der Alzheimer Gesellschaft Mittelfranken und seit 2002 Vorsitzender der Angehörigenberatung Nürnberg.

Gräßel wurde zweimal mit dem Forschungsförderungspreis der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ausgezeichnet.

(sto)

IDA - Struktur und Koordination sind die Schlüsselwörter

Demenzerkrankungen gehören zu den größten gesundheitspolitischen Herausforderungen. Um Erkenntnisse zu erhalten, haben der AOK-Bundesverband, die AOK Bayern sowie die Arzneimittelhersteller Eisai und Pfizer unter dem Namen Initiative Demenzforschung in der Allgemeinmedizin (IDA) zwischen Juni 2005 und Februar 2009 in Mittelfranken eine Interventionsstudie vorgenommen. Jetzt gibt es erste gesundheitsökonomische Ergebnisse. Dazu zählen als wichtigste: Demenzversorgung braucht mehr Struktur und Koordination. Fachleute müssen auf die Betroffenen und ihre Angehörigen zugehen.

Die Versorgung ist teuer: allein 47 000 Euro bei leichter und mittelschwerer Demenz pro Jahr, davon 80 Prozent für die Pflege.

Zentrale Anlaufstelle ist der Hausarzt; 129 Hausärzte nahmen an der IDA-Studie teil. Sie koordinierten die Versorgung von 390 Demenzpatienten in drei Studienarmen: einer Kontrollgruppe, einer Gruppe, die Kontakt zu Angehörigengruppen vermittelt bekam und die ab dem zweiten Jahr von geschulten Kräften betreut wurde, und eine dritte Gruppe, die bereits im ersten Jahr zugehende Beratung erhielt. Mehr als zwei Drittel nahm dieses Angebot an, das ist das Zehnfache des in der Regelversorgung Üblichen.

Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Ulrike Elsner

© Rolf Schulten

Interview

vdek-Chefin Elsner: „Es werden munter weiter Lasten auf die GKV verlagert!“