Gastbeitrag zur Pflegeversicherung

Happy Birthday, Modernisierungsbedarf!

Die Soziale Pflegeversicherung ist 20 Jahre alt - höchste Zeit, sie aufzufrischen. Wo die größten Baustellen liegen, und worauf es in Zukunft ankommt, beschreibt Dr. Jürgen Gohde in einem Gastbeitrag.

Von Dr. h.c. Jürgen Gohde Veröffentlicht:
Bei der Pflege von morgen ist eine vernetzte Versorgung notwendig.

Bei der Pflege von morgen ist eine vernetzte Versorgung notwendig.

© Gina Sanders/fotolia.com

Die Soziale Pflegeversicherung (SPV), auf die sich der Deutsche Bundestag am 11. März 1994 verständigt und die am 22. April 1994 verabschiedet wurde, ist heute akzeptiert.

In einem breiten parlamentarischen Konsens hat man sich damals nach viel Streit auf gemeinsame Ziele und Grundsätze geeinigt. Neben der SPV wurde bei gleichem Leistungsrecht eine private Pflegeversicherung aufgebaut.

Dr. h.c. Jürgen Gohde

Happy Birthday, Modernisierungsbedarf!

© KDA

Dr. h.c. Jürgen Gohde ist Vorstandsvorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA). Im Dezember 2011 hatte Gohde sich vom Vorsitz des Pflegebeirats der Bundesregierung zurückgezogen. Das Gremium hat bereits 2009 Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff vorgelegt.

Die SPV hat sich dabei als lernendes Gesetz erwiesen. Durch das Pflegeleistungsergänzungs-Gesetz (2002) sind wirksame Veränderungen zugunsten demenziell erkrankter pflegebedürftiger Menschen hinzugekommen, das Pflegeweiterentwicklungs-Gesetz (2008) hatte Leistungsausweitungen und begrenzte Dynamisierungen zum Ziel, vor allem aber Impulse für Fallmanagement und wohnortnahe Pflegeberatung.

Das Pflegeneuausrichtungs-Gesetz (2013) hat mehr Wahlfreiheit für Versicherte durch die Förderung neuer Wohnformen, weiter den Aufbau einer staatlich geförderten privaten Pflegevorsorge gebracht. Eine Reihe von neuen Leistungen wurde " im Vorgriff auf die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs" konzipiert.

Viele unbearbeitete Ziele

Ein Trend zu mehr ambulanter Pflege und besseren Leistungen für Menschen mit Demenz ist zu erkennen, aber auch unbearbeitete Ziele:

- Das Ziel einer rehabilitativen und präventiven Ausrichtung ist strukturell höchst unvollkommen verwirklicht.

- Seit 1994 besteht der Widerspruch zwischen dem Ziel einer ganzheitlich orientierten Pflege und einem Leistungsrecht, das sich vorrangig auf die somatischen Beeinträchtigungen konzentriert. Die Folge ist in der oft kritisierten Minutenpflege und der mangelnden Gleichwertigkeit von Beeinträchtigungen zu Lasten von Menschen mit demenziellen Erkrankungen, Menschen mit Behinderungen und Kindern zu erkennen.

- Deshalb besteht die Notwendigkeit der Anwendung eines erweiterten, inklusionsorientierten Pflegebedürftigkeitsbegriffs (Beeinträchtigung der Selbstständigkeit eines Menschen), der von Expertenkommissionen des Bundesgesundheitsministeriums 2009 vorgelegt und in den Kernaussagen 2013 bekräftigt und zur Umsetzung empfohlen wurde. Seine Einführung ist überfällig.

- 1994 hat mit der Einführung der SPV ein schädlicher Prozess der Entpflichtung und Selbstentpflichtung der Kommunen hinsichtlich der Planung und Steuerung der Pflege-Infrastruktur begonnen; gleichzeitig hat die Einführung wettbewerblicher Elemente ambulante Versorgungsformen gefördert.

- Seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht. Damit stellt sich die Notwendigkeit, das Verhältnis der SPV zur Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen zu klären.

Es besteht Modernisierungsbedarf

20 Jahre nach Einführung der SPV zeigt sich erheblicher Modernisierungsbedarf:

Die demografische Entwicklung, die Entwicklung der Demenz und Multimorbidität, veränderte Lebensformen und Bedarfe verlangen einen Konversionsprozess. Die Koalitionsvereinbarung nennt die richtigen Stichworte, ohne ein Gesamtkonzept zu entwerfen.

Die Statik der Pflegeinfrastruktur stimmt nicht mehr. Die Versorgung durch Angehörige wird mehr und mehr zur Schwachstelle. Dies gilt ebenso - trotz aller Entwicklungen - für die medizinorientierte und stationär dominierte Leistungsorientierung. Schon heute herrscht Fachkräftemangel - auch die Finanzierung der Ausbildung muss verbessert werden.

Weiter so geht es nicht. Die fehlende Dynamisierung der Leistungen hat im Wettbewerb einen Niedriglohnsektor entstehen lassen; die Ressourcen der Pflegeberufe wie der Angehörigen erodieren, Kostenbegrenzungen des Teilleistungssystems haben zu nicht bedarfsgerechten Leistungen geführt. Das Ziel der finanziellen Entlastung der Kommunen wird nicht mehr erreicht.

Die Fokussierung der Diskussion auf die SPV kann die vorhandenen Probleme nicht lösen. Die Reduktion der Vorsorge auf die finanzielle Dimension greift zu kurz. Es gibt kein Erkenntnisdefizit: Für die Zukunft der Pflege im Quartier sind vernetzte Versorgungsformen für Gesundheit, Teilhabe, Betreuung und Pflege erforderlich.

Das Netzwerk SONG ("Soziales neu gestalten" - ein Zusammenschluss von verschiedenen Akteuren in der Sozialwirtschaft) hat empfohlen, dass sich soziale Leistungen verstärkt an den Prinzipien Subsidiarität und Solidarität und am Sozialraum orientieren.

Vorgeschlagen wird eine neue Kultur des Miteinanders und der geteilten Verantwortung, um den Mix von Profis, Familien und Nachbarn vor Ort zu stärken.

Eine nachhaltige Pflegereform braucht Investitionen in einen nationalen Aktionsplan, in dem die Gestaltungsfähigkeit der Kommunen durch klare Zuständigkeiten für eine gute Pflege vor Ort zurück gewonnen wird. Es geht um mehr als Geld.

Die Pflege muss wieder zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe werden. Es geht schließlich um Achtung und Würde aller. Die Bereitschaft zu mehr Engagement - auch in finanzieller Hinsicht - ist da.

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