Pflegenotstand

Migration löst kein Massenproblem

Die Regierung buhlt immer stärker um ausländische Pflegekräfte. Sie sollen helfen, den Fachkräftemagel in der Pflege abzuwenden. Bei einem drohenden Defizit von Hunderttausenden Kräften helfen aber nur grundlegende Veränderungen, sagen Experten.

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BERLIN. Hunderttausende Pflegekräfte könnten Deutschland in Zukunft fehlen. Zunehmend auf Beschäftigte aus dem Ausland zu setzen ist nicht die Lösung des Problems. Vielmehr müssten die Arbeitsbedingungen in den Pflegeberufen hierzulande verbessert werden, damit sich die Situation nachhaltig entspannt.

Zu diesem Schluss gelangten Pflegeexperten am Montag auf der Tagung der Heinrich Böll Stiftung "Deutschland im Pflegenotstand - Perspektiven und Probleme der Care Migration".

Zwischen Angebot und Nachfrage bei professioneller Pflege könnte künftig eine enorme Lücke klaffen, sagt Professor Heinz Rothgang vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen.

Personal würde dann nicht nur knapp - sondern zum Mangel: Etwa 500.000 Mitarbeiter würden bis 2030 fehlen, prognostiziert der Experte. "Wir reden hier nicht über kleinere Arbeitsmarktverwerfungen. An der Dimension dieses Trends kommen wir nicht vorbei", betont Rothgang.

Zur Lösung des Problems greifen Entscheider in Deutschland häufiger auf Kräfte aus dem Ausland zurück. Nach aktuellen Zahlen der Caritas gibt es in Deutschland circa 70.000 im Ausland ausgebildete Pflegekräfte. Die Bundesregierung arbeitet daran, diese Zahl nach oben zu treiben.

Erst im vergangenen Jahr wurde die Beschäftigungsverordnung für 18 Berufsgruppen angepasst. Auch das Internetportal www.make-it-in-germany.de, das potenzielle Auswanderer mit ersten Informationen unterstützen soll, ging kürzlich an den Start. Wer sich aber tatsächlich für Deutschland entscheidet, hat es schwer.

Die Motivation der Migrationswilligen wird durch ein Kaleidoskop großer und kleiner Probleme zerstört.

"Die Anerkennung von Qualifikationen, das Überwinden der Sprachbarriere und nicht zuletzt die Hürden vor einer Familienzusammenführung", das seien die wesentlichen Bremsen, berichtet Elke Tießler-Marender vom Referat Migration und Integration des Deutschen Caritasverbandes. Diese Probleme würden häufig geballt anfallen und abschreckend wirken.

Mütter und Kinder haben es schwer

Der überwiegende Teil derer, die heute nach Deutschland zum Pflegen kommen, seien Frauen. Praktisch sei man darauf wenig vorbereitet.

"Eine Pflegerin kann ihr Kind nicht ohne Weiteres mitbringen. Sie braucht dafür eine weitere ausländerrechtliche Erlaubnis. Die gibt es nur, wenn der Lebensunterhalt für sie und ihre Familie vor Ort gesichert ist. Das ist schwer möglich, wenn sie erst als Pflegehilfskraft kommt und noch nebenbei ihre Sprachkompetenz aufbauen muss, um überhaupt als Fachkraft entlohnt zu werden", berichtet Tießler-Marender.

Das sei ein entscheidender Stressfaktor für die Frauen, der sich noch zur eigentlichen Belastung im Beruf geselle. Die sei hoch: viel Arbeit, viel Bürokratie, wenig Anerkennung und wenig Lohn. Das sei das eigentliche Problem, das dazu führe, das so sehr auf den globalen Markt für Arbeitskräfte zurückgriffen werden müsse.

Pflege sei aktuell ein Beruf ohne Status. Auch deshalb begeistern sich hierzulande nicht genug Menschen für die Arbeit. Ganz im Gegenteil: Immer häufiger begeistern sich Berufsangehörige zum Protest, wie in der Initiative "Pflege am Boden" zeigt.

"Ausländische Pflegekräfte können die drohende Lücke nicht stopfen", fasst Rothgang zusammen. Pflegeberufe bräuchten hierzulande keine Imagekampagne mehr, sondern echte Verbesserungen der Rahmenbedingungen.

Bedeutende Ansatzpunkte seinen bessere Stellenschlüssel, eine höhere Vergütung oder eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Damit sich mehr Leute rekrutieren lassen, die Rückkehrquoten nach Familienphasen ansteigen und die Leute länger im Pflegeberuf arbeiten können.

Das Potenzial in anderen Ländern sei auch irgendwann erschöpft. Dort falle der demografische Wandel schließlich nicht milder aus. Rumänien, Polen und China würden daher nicht für den Westen ausbilden können.

Ein gesamtgesellschaftliches Umdenken müsse stattfinden, so die Experten. Pflege als Menschenrecht löse sich nicht über den Markt. Eine breitere Debatte um Erwerbs- und Pflegearbeit muss geführt werden. Bis diese Früchte trage, könnten Strategien wie Pflegemigration das Problem lindern, aber nicht lösen. (mh)

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