Laumann im Interview

"Höherer Pflegegrad für alle Pflegebedürftigen!"

Die Pflege in Deutschland wird umgekrempelt. Was sich alles ändert, wie mehr Pflegekräfte gewonnen werden sollen und wie sich die Reformen auf Ärzte auswirken, erläutert Karl-Josef Laumann, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung im Interview.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
"Personalmangel in der Pflege ist die größte Herausforderung", findet Staatssekretär Karl-Josef Laumann.

"Personalmangel in der Pflege ist die größte Herausforderung", findet Staatssekretär Karl-Josef Laumann.

© Matthias Balk / dpa

Ärzte Zeitung: Herr Staatssekretär Laumann, was ändert sich mit der Pflegereform?

Karl-Josef Laumann: Wir kommen endlich weg von der rein körperlich- und defizitorientierten Begutachtung. Es gibt Fälle, in denen ein Mensch seine Zähne nicht mehr putzen kann, weil er seine Hände nicht mehr bewegen kann.

Es gibt aber genauso Fälle, in denen er es deshalb nicht mehr tun kann, weil er schlichtweg vergessen hat, wie das geht, obwohl er körperlich noch dazu in der Lage wäre. Das führt zu einer völlig anderen Systematik bei der Einstufung der Pflegebedürftigkeit.

Das wird, darüber sind die Fachleute sich einig, vor allem zu einer Besserbewertung der demenziell Erkrankten in der Pflegeversicherung führen. Das ist gewollt, und deshalb kostet das auch Geld.

Nach Berechnungen unseres Hauses sind alleine durch die Anhebung des Beitragssatzes um 0,2 Prozentpunkte etwa 2,5 Milliarden Euro im Jahr dafür veranschlagt - fast die Hälfte der insgesamt für diese Legislaturperiode vorgesehenen Beitragserhöhungen.

Wie soll die Reform denn umgesetzt werden?

Karl-Josef Laumann (CDU)

Aktuelle Positionen: Beamteter Staatssekretär im Gesundheitsministerium; Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patientenrechte und Pflege.

Werdegang/Ausbildung: Gelernter Maschinenschlosser

Karriere: Laumann war von 2005 bis 2010 Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen; von 2010 bis 2013 Fraktionsvorsitzender der CDU im NRW-Landtag.

Privates: geb. 1957 in Riesenbeck, katholisch, verheiratet, Vater von drei Kindern

Laumann: Alle Pflegebedürftigen, die heute schon eine Pflegestufe haben, werden automatisch in einen höheren Pflegegrad eingestuft. Damit werden die Leistungen deutlich ausgeweitet.

Gerade in der stationären Pflege führt das natürlich zu einem gewissen Anpassungsbedarf. Ich sage immer: Wenn der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in Kraft tritt, muss sich in den Heimen auch etwas ändern.

Deshalb haben wir im Entwurf des zweiten Pflegestärkungsgesetzes beispielsweise auch Übergangsregelungen im Hinblick auf die Pflegesätze - das betrifft natürlich auch die Stellenschlüssel - getroffen.

Stellenschlüssel haben wir im Gesetzentwurf nicht gefunden...

Laumann: Wenn die Bewohner in Heimen in andere Pflegegrade eingestuft werden, heißt das auch, dass unter Umständen eine andere Personalstruktur benötigt wird. Auch deshalb muss jede Einrichtung neu mit den Kassen verhandeln.

Die Frage lautet: Was bedeuten die Änderungen der Einstufungen, die für die Bewohner zu erwarten sind, für die Ausstattung der Einrichtungen? Es kommt ja nicht nur auf die Umstellung der Pflegesätze an, sondern auch auf die Anpassung der Pflegeversicherung an die Versorgungsbedürfnisse.

Starttermin für die neuen Einstufungen ist der Januar 2017. Das hat die Regierung selbst als "ehrgeizig und sportlich" bezeichnet...

Laumann: Wir haben im Gesetzentwurf für das Inkrafttreten den 1. Januar 2017 stehen. Aber natürlich hören wir uns an, was die Beteiligten etwa bei der Anhörung sagen. Wenn es dort heißt, wir brauchen einen längeren Vorlauf, dann werden wir uns die Argumente natürlich gut anschauen.

Was gibt es an Vorlauf?

Laumann: Wie gesagt: Neue Verträge müssen verhandelt werden, die Einrichtungen müssen sich umstellen. Die Mitarbeiter der Medizinischen Dienste der Krankenkassen müssen auf das neue Begutachtungsassessment geschult werden. Um nur einmal zwei Beispiele zu nennen. Spätestens nach dem Kabinettsbeschluss haben alle ein Stück weit mehr Gewissheit, was an Neuregelungen auf sie zukommt.

Ab 2017 sollen rund fünf Milliarden Euro im Jahr mehr zur Verfügung stehen als noch 2014. Die Leistungen sollen ausgeweitet werden. Wenn man die Summen in Arbeitsstunden umrechnet, fragt man sich, wer die leisten soll? Die Besetzung der Pflege ist ja jetzt schon auf Kante genäht.

Laumann: Das ist in Wahrheit die größte Herausforderung, vor der die Pflege in Deutschland steht. Wo finden wir genügend Menschen, die sich um die Pflegebedürftigen kümmern? Das treibt auch mich um.

Wir sind daher gut beraten, alles zu tun, die familiäre Pflege zu stärken. Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen leben zu Hause, davon wiederum werden zwei Drittel nur von Angehörigen versorgt, weil gar keine Sachleistungen in Anspruch genommen werden.

Noch einmal nachgefragt: Etwa 500.000 Menschen mehr als heute könnten ab 2017 Leistungen beanspruchen. Müsste dafür nicht jetzt schon ein gewaltiges Rekrutierungsprogramm anrollen?

Laumann: Ich glaube, deshalb ist auch das geplante Pflegeberufegesetz so wichtig. Wir müssen mehr Leute für die Pflegeausbildung gewinnen. Dass es immer noch Bundesländer gibt, die dafür Schulgeld verlangen, ist ein Unding. Da könnte ich die Zornesröte kriegen.

Dagegen kann man bundesweit Arzt oder Apotheker werden, ohne für Ausbildungskosten bezahlen zu müssen. Diese Unwucht ist nicht vernünftig zu begründen.

Ich denke auch, wir brauchen in allen Ländern eine flächendeckende Ausbildungsumlage. Wenn man viele Pflegeschüler hat, ist man in der Pflege in der Regel teurer als wenn man keine hat.

Wo es die Umlage gibt (Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Hessen, d. Red.), haben wir deutlich höhere Ausbildungszahlen - in Nordrhein-Westfalen rund ein Drittel. Wir müssen ganz klar mehr ausbilden.

Die generalistische Ausbildung von Kranken-, Alten- und Kinder- und Jugendlichenpflegern kommt. Vor allem die Vertreter der Altenpflege üben daran massiv Kritik. Geht mit der Generalistik Expertise verloren?

Laumann: Im Gegenteil: Mit der Generalistik wird die Pflege insgesamt gewinnen. Im Krankenhaus trifft man zunehmend alte und kranke, auch demenzkranke Menschen. Anders herum gehen viele Menschen erst dann in ein Pflegeheim, wenn sie bereits an einer oder mehreren schweren Erkrankungen leiden.

Insofern ist die Generalistik eine logische Weiterentwicklung der Ausbildung. Meine Hoffnung ist, dass die Alten- mit der Generalistik auf Augenhöhe mit der Krankenpflege kommt. Und dass sie eine Entwicklung unterstützt, dass sich die Pflege im Gesundheitssystem stärker emanzipiert.

Da stellt sich beispielsweise die Frage von Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen. In der Ärzteschaft entwickelt sich das Denken über Pflege ja auch weiter.

Welchen Beitrag kann denn das von Ihnen angestoßene Entbürokratisierungsprogramm leisten?

Ich lege Riesenwert darauf, dass die Pflegekräfte mit dem Zeitgewinn entlastet werden. Die Entbürokratisierung soll dazu beitragen, ein Stück weit den Arbeitsdruck aus der Pflege zu nehmen. Sie soll zur Entschleunigung der Pflege beitragen.

Da habe ich von den Kostenträgern, den Arbeitgebern und ihren Verbänden die Zusage bekommen. Mehr Zeit, weniger Druck: Auch das ist dringend notwendig, um den Beruf attraktiver zu machen.

Das erste Pflegestärkungsgesetz, das Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist, hat vorgesehen, 25000 Betreuungskräfte zur Entlastung des Fachpersonals zu finanzieren. Wie viele davon sind bereits in den Einrichtungen?

Laumann: Rund die Hälfte der stationären Einrichtungen erfüllt schon heute den geplanten Personalschlüssel von einer zusätzlichen Betreuungskraft pro 20 Bewohner. Da diese Kräfte als zusätzliche Kräfte kein Staatsexamen brauchen, sondern eine kleinere Ausbildung ausreicht, gibt es sie auch auf dem Arbeitsmarkt.

Sie werden von den Pflegekassen zusätzlich finanziert - zu 100 Prozent, deshalb sind sie nicht pflegesatzrelevant. Folge: Die Einrichtungen müssen ihre Leistungen nicht teurer anbieten und deshalb stellen sie die Leute ein.

Um sicherzustellen, dass die Umstellung niemanden schlechter stellt, sollen ab 2017 rund 4,4 Milliarden Euro aus der Reserve der Pflegeversicherung entnommen werden. Seit Anfang dieses Jahres fließen 1,2 Milliarden Euro in einen Vorsorgefonds , aus dem Beitragssatzsteigerungen aufgefangen werden sollen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in 20 Jahren pflegebedürftig werden . Beide Posten finanzieren keinen zusätzlichen Pflegeaufwand. Fallen sie damit nicht unter die Rubrik gesamtgesellschaftlich und müssten aus Steuermitteln aufgebracht werden?

Laumann: Ich stehe hinter dem Vorsorgefonds. Es war und ist die richtige politische Entscheidung, in einer Sozialversicherung für die Zukunft vorzusorgen. Die Pflegeversicherung basiert auf der Idee des Generationenvertrags und der Umlagefinanzierung. Und wer sich die demografische Entwicklung anschaut, weiß, dass wir vorsorgen müssen.

Und man muss das Ganze auch mal anders herum sehen: Viele Ältere, die jetzt in den Fonds einzahlen, aber selbst davon nicht mehr direkt profitieren, zahlen auch erst seit 20 Jahren in die Pflegeversicherung ein. Sie bekommen aber ganz normal wie alle anderen auch die Leistungen der Pflegeversicherung ausgezahlt. Die jüngere Generation zahlt dagegen ihr Leben lang ein.

... und die Bestandsschutzsicherung aus der Liquiditätsreserve?

Laumann: Das ist die andere politische Entscheidung. Wir machen eine historische Umstellung auf einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Aus gesellschaftspolitischen Gründen brauchen wir hier Übergangsregelungen - einmalig.

Dass man das aus der Rücklage finanziert, halte ich ebenfalls für richtig. Vor allem wenn man bedenkt, dass diese Ausgaben schon nach rund vier Jahren über den Vorsorgefonds wieder eingenommen sind.

Es bleibt dass Problem, dass damit kein Pflegeaufwand bezahlt wird ...

Laumann: Selbstverständlich wird mit dem Bestandsschutz Pflegeaufwand finanziert. Denn wenn die Menschen plötzlich weniger Geld erhalten würden, könnten sie sich nicht mehr die Pflege leisten, die sie benötigen.

Der Gesetzgeber hat die ärztliche Versorgung in Heimen aufgegriffen. Warum?

Laumann: Es ist doch klar, dass wir in den Pflegeheimen eine funktionierende ärztliche Behandlung brauchen. Das gilt im Übrigen auch für die Palliativversorgung. Deshalb sieht der Entwurf des Hospiz- und Palliativgesetzes vor, dass Heime entsprechende Kooperationsverträge mit Vertragsärzten schließen sollen. So kann die Versorgung in den Heimen besser werden.

Mir ist das als Pflegebevollmächtigter ein hohes Anliegen.Wir müssen darauf achten, dass solch segensreiche Fortentwicklungen wie die Palliativmedizin nicht nur in stationären Hospizen oder bei den Patienten zu Hause funktionieren. Davon muss auch die stationäre Pflege profitieren. Das ist ganz wichtig.

Damit nicht mehr so viele Menschen aus Heimen kurz vor ihrem letzten Atemzug ins Krankenhaus gefahren werden?

Laumann: Ja, ganz eindeutig. Oftmals liegt das daran, dass Verantwortliche oft unsicher werden. Sie können nicht mit der Situation umgehen, bekommen Angst. Und dann geben sie die Verantwortung lieber ans Krankenhaus.

Die meisten Menschen wünschen sich, zu Hause zu sterben. Mit dem geplanten Hospiz- und Palliativgesetz werden wir die Rahmenbedingungen hierfür verbessern. Das Gleiche muss dann aber auch für die Bewohner von Altenheimen gelten. Für viele ist das Altenheim ihr Zuhause geworden, weshalb sie natürlich dort sterben möchten.

Ich werde sehr darauf achten, dass auch in der stationären Pflege ankommt, was im Hospiz- und Palliativgesetz steht.

Das führt zum Thema Pflegenoten. Die sind als untauglich erkannt und ausgesetzt, geistern aber weiter durch die Diskussion. Wie genau sollen sich Pflegebedürftige und Angehörige bis zur Einführung eines neuen Systems über die Qualität einer Einrichtung informieren?

Laumann: Man sollte sich auf keinen Fall an den Pflegenoten orientieren. Die führen in die Irre. Ich kann nur sagen: Informiert Euch über die Heime in Eurer Region. Wenn dann Pflegebedarf ansteht, kennt Ihr sie schon.

Ein wichtiges Kriterium ist meines Erachtens die Personalfluktuation. Wo das Personal häufig wechselt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Arbeitsklima und die Pflege schlecht sind.

Mich würde auch das Essen interessieren: Hat das Heim eine eigene Küche? Wird regional gekocht? Oder: Gibt es in der Einrichtung noch ein Stationskonzept? Oder haben die eher Wohngruppen? Jeder, der sich mit den Heimen vor Ort beschäftigt, findet schnell Anhaltspunkte, die wichtiger sind als die Pflegenoten.

Wann steht ein neues Bewertungskonzept?

Laumann: Im Entwurf des zweiten Pflegestärkungsgesetzes haben wir ein klares Verfahren festgelegt, wer bis wann was machen muss. Und bis wann heißt 2018.

Nun mögen einige sagen: Das ist aber lange hin. Andererseits ist die Lösung des Problems nicht ganz so einfach. Wir können nicht 2017 das ganze System auf die neue Begutachtung und den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umstellen und gleichzeitig eine neue Qualitätsdarstellungsvorschrift einführen. Wir dürfen das System auch nicht überfordern.

Wichtig ist: Der Gesetzentwurf gibt für den Fall einen Konfliktlösungsmechanismus vor, dass sich die Selbstverwaltungspartner nicht einigen können. Bislang konnte sich die Selbstverwaltung immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen. Einzelinteressen haben dabei ein funktionierendes Transparenzsystem verhindert.

Das soll künftig dadurch verhindert werden, dass es im Konfliktfall im Qualitätsausschuss einen unparteiischen Vorsitzenden gibt, dessen Stimme entscheidet. So bleibt das Große und Ganze im Blick.

Ist es kein Systembruch, wenn, wie geplant, der unabhängige Schlichter vom Gesundheitsministerium benannt wird?

Laumann: Nachdem sich die Selbstverwaltung sieben Jahre lang auf kein funktionierendes Transparenzsystem geeinigt hat, finde ich es in Ordnung, wenn der unparteiische Vorsitzende vom Gesundheitsministerm bestimmt wird.

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