Prävention

Potenzial bleibt noch ungenutzt

Vier Experten - und alle reden über Wirtschaftlichkeit. Bei einem Gesundheits-Colloquium am Bundessozialgericht warnten sie aber vor Perfektionismus. Und sie forderten einen stärkeren Schwerpunkt bei der Prävention.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Zum 60jährigen Bestehen veranstaltete das Bundessozialgericht ein Symposion.

Zum 60jährigen Bestehen veranstaltete das Bundessozialgericht ein Symposion.

© Uwe Zucchi /dpa

Treffen sich vier Gesundheitsexperten, zwei Juristen, ein Soziologe und ein Ökonom. - Nein, es soll hier kein Witze-Klassiker folgen, sondern die Beobachtung eines Zuhörers: Nur ein Ökonom steht am Podium, doch alle reden von Wirtschaftlichkeit.

Die Experten bildeten eine Diskussionsrunde anlässlich eines Colloquiums zum schlichten Thema "Gesundheit", das das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel anlässlich seines 60-jährigen Bestehens veranstaltet hat.

Der Ökonom war Professor Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen, wohl einer der renommiertesten Gesundheitsökonomen Deutschlands. Doch dessen Ruf war sicher nicht der einzige Grund, warum die Wirtschaftlichkeit zum zentralen Thema wurde.

Ernst Hauck, einer der beiden Juristen, Richter und stellvertretender Vorsitzender des GKV-Senats des BSG, verwies zur Erklärung auf eine soziologische These: Wenn ein Begriff in der gesellschaftlichen Diskussion besonders häufig auftauche, weise dies in genau die entgegengesetzte Richtung.

Ob die These Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, ließ Hauck offen. Doch es blieb kein Zweifel, dass sie nach Überzeugung nicht nur des Richters im konkreten Fall trifft: Alle reden von Wirtschaftlichkeit, weil hier einiges im Argen liegt.

Beispiele gab es genug, etwa die Erhebungen von OECD und Bertelsmann-Stiftung zu medizinisch kaum erklärbaren regionalen Unterschieden bei der Häufigkeit von Operationen. "Wer bei drei nicht auf den Bäumen ist, ist unterm Messer", sagte Wasem.

"Zivilisierte Länder haben eine GKV"

Doch bei aller Kritik waren sich die Experten einig, was wir an unserem Gesundheitssystem haben. Das System der USA bezeichnete Wasem als "jenseits von Gut und Böse". Und mit durchaus stolzem Schmunzeln fuhr er fort: "Zivilisierte Länder haben eine gesetzliche Krankenversicherung."

Auf Widerspruch stieß dies nicht. Stefan Huster, Staatsrechtler an der Uni Bochum, hat nur vom deutschen Perfektionismus genug.

"Wir müssen endlich alles richtig machen - das kann ich nicht mehr hören", sagte er. Es sei eine Illusion zu glauben, das deutsche Gesundheitssystem könne das einzige System sein, in dem es keine Verschwendung gebe.

So schlug der Jurist eine pragmatische Doppelstrategie vor. Das System effizienter machen und über Rationierung nachdenken, das dürfe kein Widerspruch sein.

Wasem forderte eine Debatte über die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für medizinischen Nutzen. Huster betonte, dass die Menschen beim Thema Rationierung nicht auf Politiker oder Ökonomen, sondern auf die Ärzte setzten.

Laut Umfragen wünsche hier die Bevölkerung "in ganz großer Mehrheit" einen großen Einfluss der Mediziner.

Ein weitgehend ungehobenes Potenzial machte der Bielefelder Soziologe Bernhard Badura bei der Prävention aus. Und er erhielt Zustimmung von allen Seiten. Ob Prävention das Gesundheitssystem entlasten könne, sei zwar fraglich, meinte Wasem.

Denn sie führe zu einer höheren Lebenserwartung und damit auch zu neuen Gelegenheiten, krank zu werden. Aber sie sei ein besonders wirtschaftlicher Weg, für bessere gesundheitliche Lebensqualität zu sorgen.

Präventionsexperte Badura kritisierte die krass ungleiche Verteilung der Gelder für präventive und kurative Leistungen. "Wir machen die Augen zu, wenn es darum geht, woher die Probleme kommen.

Und wir machen sie ganz weit auf, wenn es darum geht, kranke Menschen zu versorgen." Doch Prävention habe bislang keine Lobby, bedauerte Badura, und so forderte er einen Bewusstseinswandel. Mehr Gedanken müssten darauf verwendet werden, "den Versicherungsfall zu verhindern".

Stiefkind: betriebliche Vorsorge

Dabei sei viel Wissen bereits vorhanden, es werde nur nicht genutzt. So habe die Arbeit einen besonders hohen Einfluss auf die Gesundheit. Doch es fehlten Anreize für Unternehmen, hier ihre Verantwortung wahrzunehmen und "den gesundheitlichen Verschleiß in der Arbeitswelt zu mindern".

Nur 40 Millionen Euro flössen jährlich in die betriebliche Gesundheitsprävention; gerade mal 1,9 Prozent aller Arbeitnehmer würden dadurch erreicht. Die Betriebe bräuchten steuerliche oder andere Anreize, hier mehr zu tun, forderte Badura.

Was also tun, wenn Sie Gesundheitsminister wären? Überraschend kamen hier auch ganz neue Themen auf. Ein einheitliches Versicherungssystem fordert Wasem.

Vermeidbare Operationen tatsächlich vermeiden, sagt Badura. Staatsrechtler Huster will die Kabinettskollegen überzeugen, dass Gesundheit auch für sie ein wichtiges Thema ist.

Auch Richter Hauck nennt nochmals die Prävention. Zudem würde er die duale Krankenhausfinanzierung abschaffen und sich um die Ärzteversorgung in der Fläche kümmern.

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