Suchtexperten raten

Ärzte sollen früher intervenieren

Neue, evidenzbasierte Leitlinien sollen niedergelassenen Ärzten helfen, alkoholkranke und nikotinabhängige Patienten frühzeitig kompetent zu behandeln.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Bier und Zigaretten - im Übermaß starker Tobak für die Gesundheit.

Bier und Zigaretten - im Übermaß starker Tobak für die Gesundheit.

© Barth/ dpa

BERLIN. Etwa 74.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen eines Alkoholmissbrauchs, rund 110.000 Todesfälle sind auf das Rauchen zurückzuführen.

Der Konsum von Alkohol und Tabak zählt nicht nur zu den schwerwiegendsten und teuersten Gesundheitsrisiken in Deutschland, sondern auch zu jenen, die vermeidbar wären.

Zwei neue S3-Leitlinien zur Alkohol- und Tabakabhängigkeit sollen jetzt dafür sorgen, dass Ärzte und andere Berufsgruppen, die diese Patienten behandeln, möglichst frühzeitig und effizient eingreifen.

Screenings mittels Fragebogenverfahren und Kurzberatungen gehören denn auch zu den wichtigsten Empfehlungen der jetzt veröffentlichten Leitlinien.

Die Leitlinien für die Alkoholikerbehandlung legt den behandelnden Ärzten zudem eine auf den Grad der Alkoholabhängigkeit zugeschnittene schrittweise Entgiftung nahe. Auch eine Medikation mit Benzodiazepinen wird angeraten.

Ärzte sollten immer auch nach einer mit der Abhängigkeit einhergehenden Depression fragen.

Starke Raucher sollten vom Arzt in motivierenden Gesprächen zum Nikotinverzicht gebracht werden. Wirksam seien auch Gruppen- und Einzelinterventionen, heißt es in der Leitlinie. Antidepressiva können demnach beim Nikotinentzug helfen.

Vier Jahre Konsensusprozess

Die sind in einem vierjährigen Konsensusprozess unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) entstanden.

Eingebunden waren darin Vertreter von mehr als 50 Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Gesundheitsorganisationen sowie rund 60 ausgewiesene Suchtexperten.

Die Federführung lag bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht).

Die Leitlinien bündeln das aktuelle Forschungswissen und leiten daraus konkrete Empfehlungen für Prävention, Diagnostik und Behandlung ab. Angesprochen werden damit alle Berufsgruppen, die Alkohol- und Nikotinabhängige behandeln.

Professor Karl Mann und Professor Anil Batra sehen die Haus- und Fachärzte in der Pflicht, hier künftiger wachsamer zu sein.

Zwei Millionen sind alkoholabhängig

Ein Blick in die Statistik zeigt, wie dringlich der Handlungsbedarf ist: Zwei Millionen Menschen gelten in Deutschland als alkoholabhängig. Wer davon betroffen ist, vermindert seine Lebenserwartung um etwa 15 bis 20 Jahre.

Etwa 13 Prozent der Männer im Jahr sterben in Deutschland aufgrund einer Alkoholerkrankung und europaweit sind bei Alkoholtoten junge Erwachsene zwischen 15 und 29 Jahren sogar schon am häufigsten betroffen.

Rund 89.000 Frauen und etwa 245.000 Männer wurden 2010 aufgrund von Alkoholproblemen stationär aufgenommen.

Und dennoch wird die gesundheitliche Gefahr von Alkohol nach wie vor unterschätzt: Experten stufen den Alkoholkonsum von sechs Millionen Menschen als riskant ein, bei weiteren zwei Millionen sprechen sie sogar von einem gefährdenden Umgang.

Diese Zahlen, so Professor Karl Mann vom Mannheimer Institut für seelische Gesundheit, belegten, wie wichtig es sei, endlich frühzeitig einzugreifen. "Etwa elf Prozent der Patienten haben ein Alkoholproblem.

Aber nur 17 Prozent werden deswegen behandelt. Das heißt: Viele Hausärzte sprechen das Problem nicht an", sagte Professor Mann bei der Vorstellung der Leitlinien.

Nicht viel besser sieht es bei der Nikotinabhängigkeit aus: Jeder zweite Raucher ist als abhängig einzustufen. Vor allem starke Raucher leben im Durchschnitt rund zehn Jahre kürzer als Nichtraucher.

Zudem kommt die Tabaksucht das Gesundheitswesen teuer zu stehen: Auf rund 21 Milliarden Euro summieren sich die Ausgaben, die durch Arbeitsausfälle und Frühverrentung sowie stationäre, ambulante, rehabilitative Behandlungen und Arzneimittel entstehen.

Ärzte sollten, so Professor Anil Batra von der Universität Tübingen, vor allem "sensible Momente" einer Patientenbiografie nutzen - etwa wenn eine junge Frau schwanger ist oder einem Mann der Herzinfarkt droht.

"Da kann ein Gynäkologe zuweilen erfolgreicher sein als der Suchttherapeut." Die Leitlinien werteten, so der Professor, den Stellenwert der Behandlung im Praxisalltag auf. Dies sei die Basis, um die Suchtberatung künftig im Vergütungssystem stärker zu berücksichtigen.

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