Hintergrund

Notärzte mit Palliativmedizin überfordert?

Im Notfall sollte das Palliativnetz Witten angerufen werden, so stand es in der Akte der 73-jährigen Heimbewohnerin. Stattdessen kam der Notarzt und wenig später die Kriminalpolizei. Offenbar kennen sich noch zu wenige Pflegekräfte und Notfallmediziner  mit Palliativmedizin aus.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Den Umgang mit schwerstkranken Patienten beherrschen noch nicht alle Pflegekräfte und Notärzte.

Den Umgang mit schwerstkranken Patienten beherrschen noch nicht alle Pflegekräfte und Notärzte.

© F. Schoening / fotolia

Im Umgang mit schwerstkranken Patienten, die palliativmedizinisch versorgt werden, fühlen sich Pflegekräfte in Heimen und Notfallmediziner offenbar immer noch überfordert. Das zeigt ein aktueller Fall aus dem westfälischen Witten.

Eine 73-jährige Heimbewohnerin, die an Lungenkrebs litt, wurde schon längere Zeit vom Palliativnetz Witten betreut. In ihrer Patientenakte war vermerkt, dass sie auf keinen Fall in ein Krankenhaus wollte und im Notfall die Netz-Mediziner benachrichtigt werden sollten.

Als die Frau nachts an akuter Luftnot litt, wandte sich die Nachtschwester aber nicht ans Palliativnetz, sondern an den KV-Notfalldienst, berichtet der Wittener Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns.

"Der Arzt erfasste die Situation des finalen Verwirrungszustands und verordnete das richtige Medikament." Zudem respektierte der Hausarzt, dass die Patientin nicht ins Krankenhaus wollte.

Notarzt schaltet die Kripo ein

Kurze Zeit später starb die Frau, diesmal wählte die Schwester die Notrufnummer 112. Der Notarzt alarmierte trotz telefonischer Rücksprache mit Thöns die Kriminalpolizei mit der Begründung, dass er ja nicht wisse, was der Patientin verabreicht worden sei.

Die Kripo beschlagnahmte die Leiche und leitete ein Ermittlungsverfahren ein, das sie inzwischen wieder eingestellt hat.

Der Fall ist nach Einschätzung von Thöns symptomatisch. "Auch wenn ein Palliative Care Team in die Versorgung von Heimbewohnern eingebunden ist, fühlt sich das Personal in Notfallsituationen häufig überfordert", sagt er der "Ärzte Zeitung".

Viel kritischer sieht er aber das Verhalten des Notfallmediziners. Nach wie vor würden Notärzte die Polizei immer dann einschalten, wenn sie ein Verbrechen nicht mit letzter Sicherheit ausschließen können.

"Notwendig ist das aber nur, wenn sie wirklich einen Verdacht haben." Bei einer Patientin mit Lungenkrebs im Endstadium, die sich in palliativmedizinischer Betreuung befand, sei ein solcher Schritt völlig unnötig, betont Thöns.

Bei der Frau sei zudem alles genau dokumentiert gewesen.

Die Rechtslage ist eindeutig, aber oft unbekannt

"Dabei handelt es sich eindeutig um eine Fehlinterpretation eines Notarztkollegen", stellt auch der bekannte Notfallmediziner Professor Peter Sefrin in einer Stellungnahme für die Deutsche PalliativStiftung fest.

Die Rechtslage sei klar und werde in der Ausbildung auch den angehenden Notärzten vermittelt.

Nach der Erfahrung von Thöns sind die 2011 geänderten Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung bei vielen Ärzten noch nicht angekommen.

Danach ist bei Patienten mit infauster Prognose die palliativmedizinische Versorgung statt Lebensverlängerung oder Lebenserhaltung das gebotene Behandlungsziel, wenn es dem Patientenwillen entspricht oder lebenserhaltende Maßnahmen das Leiden nur verlängern würden.

"Es ist noch ein weiter Weg, bis das wirklich umgesetzt wird", schätzt Thöns.

Der Fall zeigt auch nach Einschätzung von Veronika Schönhofer-Nellessen, Vorsitzende des Stiftungsrates der Deutschen Palliativ-Stiftung, dass in der Palliativversorgung nach wie vor grundlegende Probleme bestehen.

Es reiche nicht, wenn einzelne Fachkräfte in Heimen in Palliative Care ausgebildet seien, sagt sie.

"Das gesamte Heim muss geschult werden, die richtige Notfallnummer kennen und wissen, wo sie liegt. Es muss ein Notfallplan mit den Fachkräften entwickelt und festgelegt werden, der auch trainiert wird", so Schönhofer-Nellessen.

Für notwendig hält es Schönhofer-Nellessen, dabei auch die Notärzte einzubinden.

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